Wahljahr, Wählersorgen – und die CDU in alter Form
Im kommenden Jahr stehen fünf bedeutende Wahlen an. Die CDU will daraus gestärkt hervorgehen – insbesondere stärker als die AfD. Dafür braucht sie Menschen, die glauben, dass die CDU nicht nur regieren will, sondern auch regieren kann. Dass sie Sicherheit verspricht – und liefert.
Doch ausgerechnet Friedrich Merz, Parteivorsitzender und Oppositionsführer, geht mit massivem Ballast ins Wahljahr: Mehr als 60 % der Befragten halten seine Politik für schlecht. Die Liste gebrochener Versprechen ist lang – die Bilanz, milde formuliert, belastet. Nun also wieder: eine Berliner Erklärung. Ein frischer Beschluss des Bundesvorstands nach der Klausur vom Wochenende. Sie soll Vertrauen schaffen. Ich habe sie gelesen. Und war Seite für Seite fassungsloser.
Politik ohne Adressat
Wie kann man ein solches Dokument verabschieden, ohne auch nur einen Hauch Gespür für die Befindlichkeiten der eigenen „Kunden“ – sprich: der Wähler – zu zeigen?
Die haben Erwartungen, die seit Monaten auf dem Tisch liegen. Die Frage, ob Deutschland gegen hybride Bedrohungen gewappnet ist – wie es der Titel der Erklärung verheißt – ist nicht die, die Menschen im Alltag beschäftigt. Die meisten würden einfach gerne wieder auf den Weihnachtsmarkt gehen, ohne Angst haben zu müssen, von einem Amokfahrer totgefahren zu werden. Viele Frauen, wie ich, würden gerne wieder – auch bei Dunkelheit – mit dem Bus oder der Straßenbahn fahren, ohne angepöbelt oder abgestochen zu werden. Eltern erinnern sich noch an eine Zeit, in der Kinder selbstverständlich allein zur Schule gingen – und wieder nach Hause. Heute übernehmen Oma oder Opa den Begleitschutz für Drittklässler. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Was die AfD verstanden hat – und die CDU ignoriert
Die AfD hat zugehört. Sie greift das Bedrohungsempfinden auf, das sich aus alltäglicher – übrigens zunehmend auch wirtschaftlich-existenzieller – Unsicherheit speist. Ihre Umfragewerte, auch im Westen, erklären sich nicht etwa durch eine Wählerschaft, die aus ideologischer Radikalität heraus handelt, sondern durch die Resonanz auf konkrete Lebensrisiken.
Die CDU dagegen stellt sich über solche „Befindlichkeiten“. Man würde dem Bundeskanzler an dieser Stelle gern seine Äußerungen zur „Wehleidigkeit“ und „Larmoyanz“ der Bürger um die Ohren hauen. In der Berliner Erklärung findet sich davon nichts. Stattdessen erklärt man – bei der Präsentation mit großer Geste: Die AfD sei der „Hauptgegner“.
Das ist bemerkenswert, weil es die Priorität der CDU offenbart: Es geht nicht darum, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Es geht darum, die Macht zu verteidigen. Dabei wird offenbar übersehen, dass ohne Vertrauen schlicht keine zusätzlichen Wählerstimmen zu generieren sind – jenseits des harten Kerns von 25 Prozent, die der CDU ungeachtet aller „Erklärungen“ unverbrüchlich die Stange halten.
Hybride Gefahren als politisches Ersatzziel
Die Erklärung listet eine Galerie moderner Bedrohungen auf: Drohnen über Kasernen, Sabotage an Bahnanlagen, Cyberattacken auf Krankenhäuser, gekappte Unterseekabel, Fake News, Propaganda-Influencer.
Auch wenn konkrete Belege für die reale Gefährdungslage durch viele dieser Szenarien konsequent fehlen – sie sind nicht aus der Luft gegriffen. Doch die CDU inszeniert sich als Schutzmacht, ohne zu reflektieren, was sie selbst in den letzten 20 Jahren versäumt hat. Und sie tut das in einem Ton, als seien die beschriebenen Bedrohungen längt alltägliche Normalität..
Chronik einer langgehegten Ambition: Datensammeln mit System
Auf Police-IT verfolgen wir die sicherheitspolitische Linie der CDU seit vielen Jahren. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nahm die „Risk Assessment“-Denke Fahrt auf. 2008 veröffentlichte die von Schäuble geleitete Future Group auf EU-Ebene die Vision eines digitalen Tsunamis:
„Jedes Objekt, das ein Mensch benutzt, jede Transaktion, die er macht … generiert einen wahren Schatz an Information für öffentliche Sicherheitsorganisationen.“
Das Ziel: maximale Datenverfügbarkeit für den Staat. Seitdem betreiben die Unionsfraktionen dieses Vorhaben mit bemerkenswerter Beharrlichkeit. Die Berliner Erklärung 2025 ist in dieser Hinsicht nur eine neue Verpackung für alte Inhalte.
CDU-Forderungskatalog, Ausgabe 2025
Die Liste der Forderungen ist altbekannt:
- Funkzellenabfragen, ganz egal, wie oft die Verfassungsgerichte dazu noch „Nein, so nicht!“ sagen
- Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen
- Zentralisierung sicherheitspolitischer Aufgaben beim Bund
- Abschaffung des Trennungsgebots zwischen Polizei und Nachrichtendiensten
- „Amshilfe“ der Bundeswehr für polizeiliche Aufgaben
All diese Punkte tauchen in der Erklärung auf – verpackt in Formulierungen wie „bessere Koordination“ oder „klare Zuständigkeiten“. Was damit gemeint ist: mehr Macht für den Bund, mehr anlassloser und verschuldensunabhängiger Zugriff auf Daten, weniger föderale Kontrolle.
Fallbeispiel Zentralisierung: Der Datenpalast beim BKA
Ein Beispiel: das Zentrale Datenhaus beim Bundeskriminalamt. Noch im Aufbau, aber längst politisch gesetzt. Es soll die Daten der Länder bündeln – auch solche, die nach geltendem BKA-Gesetz gar nicht „verbundrelevant“ sind. Und das angeblich mandantengetrennt.
Wenn’s dann doch mal übergreifend ausgewertet werden soll – kein Problem. Dafür ist ja „Bundes-VeRA“ (Palantir-System) eingeplant, das genau für solche Verknüpfungen optimiert ist.
Der Nationale Sicherheitsrat – Demokratie von oben
Der neue Nationale Sicherheitsrat (NSR), ab 2026 beim Bundeskanzleramt, ersetzt den bisherigen Bundessicherheitsrat. Ihm gehören der Bundeskanzler und 9 von 18 Bundesministern an. Die Präsidenten der Bundes-Sicherheitsbehörden werden gehört – die Länder nicht.
Die Entscheidungshoheit liegt beim Bund. Koordination ersetzt Beteiligung. Der NSR soll entscheiden, was sicherheitspolitisch gilt.
Cyber- und Informationsraum: Noch eine Zentralstelle, bitte
Auch im Cyber- und Informationsraum wird kräftig ausgebaut: BSI, BKA, Verfassungsschutz, Bundeswehr, Nachrichtendienste, ZITiS – sie alle sollen enger zusammenarbeiten. Das BSI soll zur nationalen Zentralstelle für Informations- und Cybersicherheit werden – und zur operativen Abwehreinrichtung gegen KI-gestützte Angriffe. Damit entsteht eine dritte Säule der Cybersicherheitsarchitektur – neben BKA und Verfassungsschutz.
Auch diese Bundesoberbehörde untersteht dem Bundesinnenministerium, das sich zusehends vom „Verfassungsministerium“ zum „Polizeiministerium“ entwickelt.
Drohnenalarm – mit semantischen Nebenwirkungen
Drohnen bekommen eine ganz eigene Relevanz in der Erklärung. Vom 250-Gramm-Quadrocopter über landwirtschaftliche Vermessungsdrohnen bis zum militärischen Flugkörper – alles wird in einem Topf verrührt.
Die Bundespolizei soll künftig eigene Drohnen einsetzen – zur Überwachung, zur Aufklärung und zur Abwehr. Letzteres kann auch über elektromagnetische Impulse (EMPs), GPS-Störungen oder physische Eingriffe erfolgen. Das Luftsicherheitsgesetz wird angepasst, um der Bundeswehr Amtshilfe im Drohnenfall zu ermöglichen.
Ob dabei klar unterschieden wird, welche Drohnentypen welche Gefahr darstellen – bleibt offen. Denn die CDU braucht keine Definitionen. Sie braucht Bedrohungsszenarien.
Selbstschutz „der Bevölkerung“ als Sicherheitskonzept
Dreist wird es dort, wo die Erklärung „Stärkung der Fähigkeiten der Bevölkerung zu Selbstschutz und Selbsthilfe“ fordert: Unverfroren wird in der Erklärung „die Bevölkerung“ in die Pflicht genommen: Selbstschutz, Selbsthilfe, Resilienz.
Der Staat, der sich selbst in einer neuen Sicherheitsarchitektur einrichtet, zieht sich aus dem Versprechen des Schutzes zurück. Die Verantwortung wird umverteilt: Wer sich bedroht fühlt, soll seine „Larmoyanz“ entweder ablegen, oder sich selbst um seinen Schutz kümmern – notfalls mit Youtube-Erste-Hilfe-Kenntnissen.
Ich stelle mir vor, wie ich abends allein von der Straßenbahnhaltestelle nach Hause gehe. Ein Mann kommt bedrohlich auf mich zu. Wenn ich Glück habe, kann ich mich verteidigen. Wenn nicht, spüre ich vielleicht ein Messer. In beiden Fällen bleibt das Gefühl: Ich bin auf mich allein gestellt.
Desinformation als Staatsbedrohung – und als Exkulpation
Das letzte Viertel der Erklärung widmet sich Fake News, Hassrede und Einflussnahme auf die Demokratie. Inhaltlich ist das eine staatstragende Wiederholung von Positionen, die man aus Pressemitteilungen von BMI längst kennt.
Erstaunlich ist, was plötzlich mitgedacht wird: Der Staat werde durch Desinformationskampagnen anderer Länder „diffamiert“. Diese „Rufschädigung“ könne die Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit und etablierte Beziehungen „langfristig schwer beeinträchtigen“. Das liest sich wie eine offizielle Exkulpation des Fehlens von diplomatischem Gespür für aktuelle und frühere Amtsinhaber des Auswärtigen Amtes; in einem sicherheitspolitischen Text dieser Art kommt es allerdings eher überraschend.
Resümee: Sicherheit für Institutionen, nicht für Menschen
Der eigentliche Skandal der Berliner Erklärung liegt nicht in ihren Inhalten, sondern in ihrer Perspektive. Sie zielt nicht auf Sicherheit für Menschen – sondern auf Sicherheit für Institutionen. Genauer: auf die Stabilisierung staatlicher und parteipolitischer Funktionsfähigkeit.
Der Text dokumentiert eine Strategie – aber keine Empathie. Er verteidigt Strukturen – aber keine Lebensrealität. Die CDU will regieren – aber nicht hören. Menschen kommen in ihrer Erklärung nicht vor. Die „Bevölkerung“ hat zu funktionieren!
Wähler, die nicht mehr an den Schutz durch den Staat glauben, wählen nicht radikal. Sie wählen resigniert: Die Partei, die sie überzeugt mit glaubhaften Konzepten – für mehr subjektive Sicherheit.
Wer so den Wahlkampf beginnt, wie die CDU, braucht sich auch über künftige Umfragewerte nicht zu wundern.
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