PIAV Waffen- und Sprengstoffdelikte: Keine Antworten auf einfachste Fragen

Vier Jahre nach der Einführung des PIAV für Waffen- und Sprengstoffdelikte kann die Bundesregierung keine Antworten auf einfachste Fragen liefern. Behauptet sie jedenfalls. Ich glaube, dass die vorgetäuschte Unfähigkeit bewirken soll, dass unliebsame Fragen im Bundestag nicht beantwortet werden. Denn dieser Modus Operandi ist nicht neu …
Lesedauer: Ca. 7 Minuten

Die Vorgeschichte von PIAV Stufe 1, dem Meldedienst für Waffen- und Sprengstoffe

Die frühe Entwicklung des PIAV

Mit den ersten Planungen zum PIAV, dem polizeilichen Informations- und Analyseverbund, wurde 2007 begonnen. Die notwendigen Abstimmungen zwischen den Polizeibehörden der Länder und denen des Bundes, insbesondere mit dem BKA, zogen sich hin. 2011 wurde dann ein Pilotprojekt durchgeführt, bei dem die drei, damals in deutschen Polizeibehörden eingesetzten Fallbearbeitungssysteme praktisch demonstrieren sollten, ob sie in der Lage sind, nach „PIAV-Regeln“ und unter Verwendung des XPOLIZEI-Standards sinnvoll miteinander Informationen auszutauschen. Als erster Einsatzbereich für die Stufe 1 des PIAV war Organisierte Kriminalität im Rockerumfeld ausgewählt worden. Alle Vorbereitungen und der Pilottest liefen in diese Richtung. Wochen später und nach sehr aufwändigen Tests hatte jedes Fallbearbeitungssystem diesen Test im Großen und Ganzen bestanden. Die Vertreter der jeweiligen Landesbehörden verfertigten einen wohl abgestimmten Abschlussbericht: Der, zur großen Erleichterung besonders mancher Beteiligter, allen Ländern bestätigte, dass ihr jeweiliges Fallbearbeitungssystem grundsätzlich geeignet war für den PIAV. Das war im Herbst 2011. [–> Disclaimer]

November 2011: Der NSU flog auf

Zwischen 2000 und 2007 waren neun Männer ausländischer Abstammung und eine Polizistin vom so genannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet worden. Mordversuche an 43 weiteren Personen, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle gingen außerdem auf das Konto des NSU. Am 4. November 2011 begingen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, dann in Eisenach ihren letzten Banküberfall. Kurz darauf wurden die beiden erschossen aufgefunden. In einem brennenden Wohnmobil. Wenige Stunden später brannte in Zwickau die Wohnung des NSU-Trios. Beate Zschäpe hatte das Feuer gelegt. Im Brandschutt fand die Polizei drei Langwaffen und vier Pistolen, darunter die Dienstwaffen der Polizistin Michèle Kiesewetter und ihres (schwer verletzten) Kollegen. Ferner die Česká-Pistole, mit der die Morde begangen worden waren. Sowie 2,5 Kilogramm Schwarzpulver, 20 Schusswaffen, davon zwei Maschinenpistolen, 1.600 Patronen und Munitionsteile [Alle Details aus diesem Wikipedia-Beitrag].

Fünf Wochen nach diesen Ereignissen trafen sich die Innenminister zu ihrer regulären Herbsttagung: Sie beschlossen, dass aufgrund des Ermittlungsverfahrens gegen den NSU die rasche Einführung des polizeilichen Informations- und Analyseverbundes (PIAV) notwendig ist. Ein Jahr später beschlossen die Innenminister dann, dass die Einführung des PIAV beschleunigt werden sollte.

Das BKA übernahm die Federführung: Dort wurde die Programmkoordination PIAV eingerichtet, um die bereits bestehenden Projektgruppen ‚Lastenheft PIAV-operativ‘, ‚PIAV Technik/Planung‘ und ‚XPolizei PIAV‘ zu koordinieren und die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zu moderieren.
Angesichts der Ereignisse in Eisenach lag nichts näher, als die bisherige inhaltliche Planung für den PIAV über den Haufen zu werfen und zu beschließen, dass PIAV im ersten Schritt zur Verfügung gestellt werden sollte, um den Tatmittelmeldedienst abzulösen. Daraus sollte die Stufe 1 des PIAV werden, PIAV für Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Viereinhalb Jahre später, im Mai 2016 war es dann soweit: Beim BKA wurde der Wirkbetrieb aufgenommen und dann sukzessive alle 19 PIAV-Teilnehmer zugeschaltet.

Informationen über Waffen- und Sprengstoffdelikte

Mit dem Tatmittelmeldedienst beliefern alle 19 INPOL-Teilnehmer eine Zentraldatei beim BKA, um einen Überblick zu erhalten über Straftaten (und anderer Ereignisse), bei denen Waffen oder Sprengstroff zum Einsatz kam. PIAV Stufe 1 sollte den bisherigen Tatmittelmeldedienst ablösen. Der verwendete ein zweiseitiges DIN-A4-Formular zur Erhebung der relevanten Informationen, die von einer Polizeibehörden an das BKA als Zentralstelle zu melden waren. Die Stufe 1 des PIAV hatte im Wesentlichen die Aufgabe, dieses simple Formular datentechnisch nachzubilden und die Funktionalität bereitzustellen, um die entsprechenden Informationen online aus den verschiedenen Polizeibehörden der Länder in der Zentraldatei beim BKA anzuliefern.

Neben Verwaltungsinformationen (von wem, an wen, usw.) erhebt das Formular Detailinformationen zu diesen Informationsobjekten:

  • Angaben über die Person, bei der der Fund gemacht wurde,
  • Angaben zu eventuellen Tatbeteiligten,
  • Angaben zum „Fall“, das ist eine der Sicherstellung oder dem Fund zugrundeliegende Straftat oder ein Ereignis: Und dazu die Details zu Tat- bzw. Fundort, Tatzeit, und Sachverhaltsangaben,
  • ausführliche Informationen zu der bzw. den sichergestellten Waffen, zur Munition (Hülsen, Projektile), Sprengstoffen und Sprengmitteln und detaillierter Beschreibung (bei den Waffen) zu Hersteller, Modell, Nummer, Kaliber, Beschusszeichen usw.) und – bei der Munition zu Art, Anzahl, Kaliber usw.
Auszug aus dem Formular zur Erfassung der Details über Waffen, Munition, Sprengstoffe, etc.
Auszug aus dem Formular zur Erfassung der Details über Waffen, Munition, Sprengstoffe, etc.

Anfragen im Bundestag zu Waffen- und Sprengstofffunden bzw. -sicherstellungen

Anfrage vom Mai 2017

Im Frühjahr 2017 wollte die Linksfraktion im Deutschen Bundestag Genaueres wissen über Waffen und Sprengstofffunde in Deutschland in den Jahren 2015 und 2016.
Die Bundesregierung lieferte entsprechende Zahlen aus dem Tatmittelmeldedienst, da ja der PIAV Stufe 1 erst im Mai 2016 in Betrieb genommen worden waren. Und wies entgegen­kommender­weise darauf hin, dass – entgegen der engen Fragestellung nach WaffenFUNDEN – die von ihr gelieferten Zahlen auch die SICHERSTELLUNGEN von Waffen beinhalten würden, die von den gelieferten Zahlen 90 % ausmachen würden, während die Waffenfunde nur 10 % umfassen. Ansonsten waren mit der Beantwortung dieser Anfrage keine Probleme ersichtlich. Soweit sich die angefragten Daten aus dem Tatmittelmeldedienst ergaben, wurden die Fragen auch beantwortet.

Erneute Anfrage im Sommer 2020

Die Linksfraktion wiederholte ihre Anfrage, inhaltlich nahezu identisch zu der Vorlage aus 2017.
Sie wollte z.B. wissen,

  • in wie vielen Fällen die Polizei in den drei Jahren 2017. 2018 und 2019 Schusswaffen sichergestellt hat
  • und um wie viele und welche Waffen es sich dabei gehandelt hat.

Die Bundesregierung sagt, sie hat keine Daten

Die Antwort der Bundesregierung dürfte jeden Leser verblüffen. Die erwiderte nämlich, dass aus dem PIAV-Meldedienst Waffen und Sprengstoffdelikte „keine statistischen Daten zu sichergestellten Schusswaffen in den Jahre 2017,2018 und 2019 vor“liegen.

Das ist ein starkes Stück! Da wurden zwischen 2013 und 2016 mehr als 62 Millionen Euro ausgegeben, um diese Stufe 1 des PIAV reif zu machen für den Wirkbetrieb . 2016 ging der dann endlich in Betrieb. Und vier Jahre später kann die Bundesregierung selbst einfachste Fragen aus diesem Meldedienst nicht beantworten. Wie zum Beispiel

  • wann,
  • wo,
  • wie viele
  • und welche Schusswaffen

sichergestellt worden seien.

Auslegungsmöglichkeiten der Antwort der Bundesregierung

Denkbar sind verschiedene Auslegungen für diese befremdliche Antwort:

  1. Entgegen den Beteuerungen seit mehreren Jahren ist PIAV Stufe 1 noch gar nicht im Wirkbetrieb. Daher gibt es die entsprechenden Daten auch nicht.
  2. Es gibt unter den teuer bezahlten PIAV-Fachkräften im BKA niemanden, der eine solche banale Auswertung vornehmen könnte.
  3. Die Fachleute im BKA haben den Entscheidern im BMI verkauft – und die haben es geglaubt – dass diese Auswertung nicht vorhanden ist und verschwiegen, wie leicht sie zu erstellen ist (Meine großzügige Schätzung: 5 – 15 Minuten braucht ein Oracle-Experte, der die Datenstruktur des PIAV-Meldedienstes kennt, zur Erstellung einer wiederverwendbaren Abfrage für die oben beispielhaft angegebene Frage)
  4. Die Antwortgeber im Namen der Bundesregierung wollten einfach keine Antwort geben und glauben, sie kommen mit solchen ‚Für-Dumm-Verkaufen-Antworten‘ durch.

Zum wiederholten Mal verletzt das Bundesinnenministerium das parlamentarische Auskunftsrecht

Ich persönlich glaube, dass Auslegung #4 der Wahrheit am nächsten kommt. Denn den gleichen Modus Operandi – ‚unsere Datenbanken können nicht zählen‘ – hat das BMI schon vor Jahren erfolgreich eingesetzt, um parlamentarische Fragen abzuwehren [A]. Damals hatte die Linksfraktion nach der Überwachung von Angehörigen verfassungsrechtlich geschützter Berufsgruppen, wie Journalisten, Anwälte oder Ärzte gefragt. Heute zielt die Frage ab auf Funde und Sicherstellungen von Waffen und Sprengstoffen durch die Polizei.

In beiden Fällen schützt die Bundesregierung Unfähigkeit vor, um zu verbergen, dass sie diese unliebsamen Fragen nicht beantworten will. Dieses Recht steht ihr allerdings nicht zu:
Denn auf der Webseite des Deutschen Bundestages heißt es:

„Wenn Abgeordnete nicht kritisch nachfragen würden, könnten sie nicht die neben der Gesetzgebung wohl wichtigste Aufgabe des Parlaments erfüllen: Die Kontrolle der Regierung. Ohne Informationen funktioniert dies nicht. Das Fragerecht der Parlamentarier sichert somit die Grundlage ihrer Arbeit. … Das parlamentarische Fragerecht leitet sich vor allem aus dem in Artikel 38 des Grundgesetzes verankerten Abgeordnetenstatus und dem in Artikel 20 festgeschriebenen Demokratieprinzip ab. Genauer ausgestaltet ist das Fragerecht in der Geschäftsordnung des Bundestags.“

Bei Texten aus dem BMI sollte man jedes Wort auf die Goldwaage legen …

Wie immer, wenn es um Texte aus dem Bundes­innen­ministerium geht, empfiehlt es sich, genau auf jedes Wort zu achten:

Was sind „statistische Daten“?

Die „statistischen Daten“ lägen ihr nicht vor, sagt die Bundesregierung. Wenn damit das Ergebnis des Abzählens gemeint ist – wie viele Fälle, wie viele Schusswaffen usw. -: Das muss man nicht von Hand machen! Datenbanken unter Oracle (das Datenbank­betriebs­system des PIAV) können so etwas quasi automatisch. Ein Experte muss nur EINMAL eine entsprechende Abfrage formulieren.
Wenn also solche Daten noch nicht vorliegen – und wer hat schon die ANTWORT auf jede denkbare Frage im Voraus vorliegen? – dann kann man einen der vielen externen Experten im BKA eine solche Abfrage erstellen lassen, sie speichern und dann beliebig oft wieder verwenden. Ist das nicht wunderbar??

Nebenbei gefragt: Auf welcher Grundlage treffen Innenpolitiker eigentlich Entscheidungen …?

… wenn selbst solche banalen Fragen von zig Millionen-teuren IT-Systemen (angeblich) nicht beantwortet werden können??

Die strategische Komponente des PIAV

Die Antwort könne nicht geliefert werden, sagte die Bundesregierung zu mehreren weiteren Fragen, „weil die Einführung der strategischen Komponente des PIAV noch nicht abgeschlossen“ ist.

Ei der Daus! Man wäre ja schon glücklich, wenn eine vier Jahre alte ERSTE Stufe des operativen PIAV wenigstens schon zählen könnte. Oder wenn von den sieben ursprünglich einmal geplanten Ausbaustufen für den PIAV für die wesentlichen letzten – für Korruption, Geldwäsche, Organisierte Kriminalität, Staatsschutz – schon mehr da wäre als wolkige Planungen und unbestimmte Freigabetermine.

Aber was soll das jetzt nun wieder mit der strategischen Komponente?
In einem Dokument aus dem Jahr 2008 finden sich ein paar Seiten zu diesem Thema. Diese strategische Komponente, auch PIAV-FI (Führungsinformation) genannt, soll keine personenbezogenen Daten enthalten, sondern nur Falldaten bereitstellen, also Sachverhalte zu Straftaten, sowie Tatorte, -zeiten und Delikte. In Baden-Württemberg ist man gerade im Beschaffungsverfahren für ein solches System (es heißt dort PRIMAS) [B].

Warum allerdings ein – noch nicht vorhandenes – Führungsinformationssystem beim BKA abgewartet werden muss, um einfachste Fragen zu Fällen unter Verwendung von Waffen oder Sprengstoff etc. zu beantworten: Das bleibt bis auf weiteres das Geheimnis der Bundesregierung. Oder ein weiterer peinlicher Versuch, das parlamentarische Auskunftsrecht von Abgeordneten durch Dummstellen auszuhebeln.

Disclaimer

Annette Brückner, die Autorin dieses Artikels, war zwischen 1993 und 2013 Projektleiterin der Firma Polygon Visual Content Management GmbH für das polizeiliche Informationssystem POLYGON und in diesem Zusammenhang auch am erwähnten Pilotprojekt im Vorfeld des PIAV beteiligt.

Verwandte Beiträge

[A]   Wunderwelt der Datenbanken: Können Datenbanken der Sicherheitsbehörden zählen?!, 10.05.2014

[B]   Polizeiliches Führungsinformationssystem für die strategische Kriminalitätsanalyse: Polizei Baden-Württemberg beschafft PRIMAS, 12.06.2020

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1 Gedanke zu „PIAV Waffen- und Sprengstoffdelikte: Keine Antworten auf einfachste Fragen“

  1. „strategische Komponente“ klingt für mich wie ein Software-Tool zum automatisierten Manipulieren von anonymisierten / statistischen, also nicht mehr zum konkreten Ereignis rückverfolgbaren Daten, im Sinne eines gewünschten (strategischen) Endergebnisses. Würde die Regierung die Anfrage mit konkreten Zahlen beantworten, müsste sie bei strategischer Zielsetzung erstmal ein solches Ziel haben oder kennen und die Verantwortlichen in Polizei oder Politik hätten die Qual der Wahl, wie hoch oder niedrig die Zahlen in die gewünschte Zielrichtung angesetzt / manipuliert werden sollten. Wie ein Angeklagter, dem man empfiehlt lieber zu schweigen, als sich durch konkrete Angaben angreifbar zu machen, vermeidet die Regierung quasi die Setzung konkreter statistischer Marksteine, weil man dahinter später nicht mehr zurück kann.
    Also die Formulierung „strategische Komponente“ weist in meinen Augen auf eine alarmierende Situation hin und ist vielleicht als entlarven sollender Fingerzeig von der zivilen Politik auf Vorgänge und Tendenzen in der quasi paramilitärischen Polizei gemeint.

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