Die Misere mit dem polizeilichen Informationsaustausch

Teil 1 der Serie ‚Polizeilicher Informationsaustausch und der PIAV‘
Ein Überblick über die aktuellen Fähigkeiten der deutschen Polizeibehörden, miteinander Informationen zu teilen.

Lesedauer: Ca. 4 Minuten

Potemkin lässt grüßen!

Diese Artikelserie erzählt die Geschichten, den bisherigen Verlauf und Erfolg des Polizeilichen Informations- und Analyseverbunds (PIAV) aus der Sicht eines eines ab und an an der Entwicklung Beteiligten.

Prolog

Der Polizeiliche Informations- und Analyseverbund (PIAV) ist ein aktuell noch im Aufbau befindliches Verbundsystem der Polizeibehörden des Bundes und der Länder. PIAV soll das primäre polizeiliche Verbundsystem INPOL ergänzen und somit zum zweiten Standbein des Informationswesens der Polizeibehörden von Bund und Ländern werden. PIAV soll es insbesondere ermöglichen, dass relevante Informationen – auch aus laufenden strafrechtlichen Ermittlungen und polizeilichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr – zwischen den Polizeibehörden von Bund und Ländern (mit)geteilt werden können.

Ein funktionierender PIAV wäre also die Voraussetzung für die gerade nach den Anschlägen von Brüssel vom März 2016 wieder vehement erhobene Forderung nach „mehr Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden“. Bevor allerdings, wie dies der Bundesinnenminister vor wenigen Tagen getan hat [1], nach „mehr Austausch zwischen Polizeibehörden verschiedener europäischer Länder“ verlangt wird, empfiehlt es sich, einen Blick zu werfen auf die aktuellen Fähigkeiten zum Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden in Deutschland.

Die aktuelle Misere des polizeilichen Informationsaustauschs

Dabei offenbart sich, dass die Polizeibehörden heute weitgehend unfähig sind, auf elektronischem Wege Informationen miteinander zu teilen oder einander mitzuteilen:

  • Aktuell ist es in vielen Polizeibehörden „normal“, dass noch nicht einmal die Vorgangs- und Fallbearbeitungssysteme in ein- und derselben Bundes- oder Landes-Polizeibehörde automatisiert Informationen miteinander austauschen können.
  • In mehreren Bundesländern ist es seit Jahren „normal“, dass unter der beschönigenden Bezeichnung ‚halbautomatische Schnittstelle‘ Heerscharen von Erfassungskräften damit beschäftigt sind: Sie übertragen manuell / intellektuell die relevanten Informationen aus dem Vorgangsbearbeitungssystem in das Landes-Auskunfts- und Fahndungssystem (INPOL-Land).
  • Selbst im Falle eines terroristischen Anschlags in Deutschland oder im Falle eines großen Unfalls oder einer Naturkatastrophe ist derzeit nicht sichergestellt, dass alle Polizeibehörden innerhalb von Stunden Zugang zu einem gemeinsamen Informationssystem für diesen, im Polizeideutsch so genannten ‚BAO-Lagefall‘ haben und dies nutzen können. Eine zweimalige Anfrage unserer Redaktion bei der Pressestelle des Bundesinnenministeriums aus den letzten zwei Wochen blieb bisher, entgegen zahlreichen anderen Anfragen zuvor bei der BMI-Pressestelle, gänzlich unbeantwortet. Keine Antwort ist auch eine Antwort, sagt dazu ein Sprichwort!

Desaströs sind jedoch nicht nur die beschämend unzureichenden technischen Fähigkeiten:

IT-Projektmanagement durch Polizeivollzugsbeamte im Zweitjob

Sie sind nämlich auch die Folge des Zwangs zu gemeinsamen, einvernehmlichen Entscheidungen zwischen Bund und Ländern, denn „Polizeiarbeit ist ja Ländersache“. Es müssten also sechzehn Landes- und zwei Bundespolizeibehörden neben ihrer polizei-fachlichen auch informationstechnische Expertise aufbauen, um kompetente Entscheidungen über langfristig einzusetzende polizeiliche IT-Verfahren treffen zu können.

Eine solche Ressourcenverwendung kann sich keine Behörde leisten. Und so kommt es, dass – nach den schlechten Erfahrungen mit INPOL-Neu zur Jahrtausendwende – beim PIAV erneut der Fehler gemacht wird, dass hunderte von Polizeibeamten aus allen möglichen Deliktsbereichen neben ihrem Hauptamt auch noch einen Zweitjob haben als Vertreter ihres Landes in einer der zahlreichen Bund-Länder-Fach-/Arbeits- bzw. Projektgruppen. IT-Projektmanagement stand zu keinem Zeitpunkt auf dem Ausbildungsplan dieser Leute. Projektarbeit für PIAV wird in der Regel erbracht als „Zugleich-Aufgabe“ [a], wobei in der Regel erwartet wird, dass solche Aufgaben zeitlich nicht zu Lasten des Hauptamts gehen [2]. Das definiert die Priorität solcher Arbeiten aus der Sicht der jeweiligen Behörde.

Und entsprechend ist dann auch, was bei solchen Bund-Länder-Gemeinschaftsprojekten herauskommt [3]: Zehn Jahre bedeuten in der allgemeinen Informationstechnik die Lebensspanne von mindestens einer technologischen Generation. Die gleichen zehn Jahre braucht die deutsche Polizei, um in aller Geruhsamkeit Bedarf und Wünsche zu erheben, Strategien festzulegen, Fachkonzepte zu entwickeln, Grob- und Feinspezifikationen zu erarbeiten und die letzte, fachliche, Kleinigkeit festzulegen – zu denen nicht zuletzt so wichtige Dinge gehören, wie Kataloge für Fachbegriffe -, die dann u.U. wieder verworfen und neu konzipiert werden, ohne dass man den immer wieder bekräftigten, seit Jahrzehnten gleichen Zielen entscheidend näher gekommen wäre.

Die strategischen Ziele

Schon Anfang der neunziger Jahre waren in der so genannten INPOL-Konzeption strategische Ziele festgelegt worden für INPOL – das Verbundsystem der Polizeibehörden von Bund und Ländern. Das völlige Desaster bei der Umsetzung dieses ersten Verbundsystems namens INPOL-Neu konnte 2001 nur mit Mühe verhindert werden. Erst 2003 war dann aus dem in Hamburg entwickelten System POLAS ein funktionierendes INPOL-Neu (-Neu) gemacht worden, das für die wichtigsten Kernfunktionen tat, was erwartet wurde [4]. Das große strategische Ziel jedoch, die Vermeidung der mehrfachen Erfassung bzw. Abfrage von an sich gleichen Daten in den verschiedenen Systemen, wurde mit INPOL-Neu nicht erreicht.

Erst 2005 hatte man sich dann wieder so weit gefangen nach dem Schock des Beinahe-Scheiterns von INPOL-Neu, dass eine Bund-Länder-Projektgruppe sich daran machte, die aktuellen Probleme und Bedürfnisse zu erheben und Ziele daraus abzuleiten. Sie brauchte lange dafür. Erst im August 2007 lagen die Ergebnisse vor in Form der ‚Strategischen Leitlinien für die konzeptionelle Weiterentwicklung INPOL“ [5]. Weil diese Ziele so elementar sind, wollen wir sie an dieser Stelle wiedergeben [Zum Verständnis: „INPOL“ wird hier als Oberbegriff für das polizeiliche Verbundsystem der Polizeibehörden in Deutschland verwendet.]:

  1. INPOL ermöglicht eine durchgängige einmal Erfassung und Mehrfachnutzung von Daten.
  2. Die Datenqualität in INPOL wird verbessert.
  3. INPOL ermöglicht die Erstellung aktueller kriminalgeographischer und/oder phänomenologischer Lagebilder.
  4. INPOL optimiert die polizeiliche Zusammenarbeit und Erkenntnisgewinnung.
  5. INPOL kann ausreichend flexibel auf neue bzw. sich ändernde Sicherheitslage reagieren.

Fortschritte seitdem?!

In den neun Jahren seither entfaltete sich das Verfahren zur Entwicklung eines polizeilichen IT-Großprojekts im Verbund von achtzehn Polizeibehörden zur vollen Blüte: Die Zahl der Arbeitskreise, Kommissionen, Projekt- und Expertengruppen ist nicht abschließend aufzählbar, die Summe der Arbeitstage für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der tausenden von Sitzungstagen werden – wohlweislich – nicht gesondert statistisch erfasst. Und die Distanz zwischen Erde und Mond [b] ist durch PIAV-bedingte Dienstreisen inzwischen mit Sicherheit mehrfach durchmessen worden sein.
Umgesetzt und praktisch nutzbar ist vom PIAV bisher allerdings noch nichts.

Was von der Einführung des PIAV zum Wirkbetrieb – im Mai 2016 – zu erwarten ist

Doch im Mai 2016 soll es ja jetzt so weit sein: Eine erste Ausbaustufe dieses PIAV soll dann in den Wirkbetrieb gehen [6]. Vorfreude darauf, dass dann alles besser werden wird, ist jedoch verfehlt. Denn diese erste Ausbaustufe soll lediglich einsetzbar sein für Informationen aus dem Deliktsbereich der Waffen- und Sprengstoffdelikte. Dabei handelt es sich – sagt das entsprechende Bundeslagebild des BKA [7] – um gerade mal 0,2% aller Straftaten! Daneben soll es später noch sechs weitere deliktsspezifische Varianten des PIAV geben – auch das an sich schon wieder ein Sachverhalt, der echten Informationsaustausch beeinträchtigt. Es wird noch Jahre dauern, nach der hoffentlich erfolgreichen Inbetriebnahme der ersten Stufe, an der schon heute so mancher Insider zweifelt, bis die wirklich wichtigen Deliktsbereiche vom PIAV unterstützt werden, wie Organisierte Kriminalität, Rauschgiftkriminalität, IuK-Kriminalität, Eigentumskriminalität, Wirtschaftskriminalität / Korruption / Umwelt- und Verbraucherschutzdelikte, Geldwäsche und Fälschungskriminalität, Gewalt- und Schwerkriminalität und politisch motivierte Kriminalität.

Und der Staatsschutz, der ja im Zusammenhang mit der Ermittlung bzw. Abwehr von terroristischen Anschlägen eine herausragend wichtige Aufgabe hat?! Der soll erst ganz zum Schluss drankommen „keinesfalls vor dem Jahr 2020“, wie aus informierten Kreisen zu hören ist.

Fußnoten

[a]   Zugleich-Aufgabe::= Polizeideutsch dafür, dass ein Polizeibeamter neben seinem Hauptamt auch noch andere Aufgaben zu erledigen hat. Die Betroffenen klagen darüber, dass erwartet wird, dass sie die Zugleich-Aufgaben schaffen, ohne dass dafür zeitliche Abstriche vom Hauptamt gemacht werden.

[b]   Distanz Erde – Mond = 370.300 km, mit 740 Dienstreisen ist diese Distanz geschafft, wenn man durchschnittlich 500 km (Hin- und Rückweg) ansetzt. Und 740 Dienstreisen (pro Jahr), das sind gerade mal 50 Besprechungen / Sitzungen / Treffen (bei durchschnittlich 15 vertretenen und anreisenden Behörden), also wahrlich in einem Jahr zu schaffen

Quellen und verwandte Artikel auf diesem Blog

[1]   Reine Schaufensterpolitik: De Maizière will ran an die Datentöpfe, 230.3.2016, POLICE-IT
https://police-it.net/schaufensterpolitik-de-maiziere-will-ran-an-die-datentoepfe-11031

[2]   IT-Verbundprojekte der Polizei: Zugleich-Aufgaben sind Gründe für späteres Scheitern, 22.10.2013, POLICE-IT
https://police-it.net/it-verbundprojekte-der-polizei-haende-hoch-hilft-nicht-weiter-4550

[3]   IT-Verbundprojekte der Polize: Anfällig für spätere Desaster, 21.10.2013, POLICE-IT
https://police-it.net/it-verbundprojekte-der-polizei-anfaellig-fuer-spaetere-desaster-4542

[4]   Weit besser als sein Ruf: INPOL-Fall, der Vorläufer des PIAV, 01.10.2013, POLICE-IT
https://police-it.net/weit-besser-als-sein-ruf-inpol-fall-der-vorlaeufer-des-piav-4335

[5]   Strategische Leitlinien für die konzeptionelle Weiterentwicklung INPOL, 14.08.2007, UA IuK – Polizeiliche Informations- und Kommunikationsstrategie und -technik

[6]   Antwort einer Sprecherin des Bundesministeriums des Innern vom 17.12.2015 auf unsere Presseanfrage

[7]   Bundeslagebild Waffenkriminalität 2014, 2014, Bundeskriminalamt Wiesbaden
http://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Waffenkriminalitaet/waffenkriminalitaetBundeslagebild2014.html

Über die Autorin

Die Autorin, Annette Brückner, war von 1993 bis 2013 tätig als Projektleiterin für das Polizeiliche Informationssystem POLYGON. Und in dieser Funktion über mehrere Jahre auch immer wieder befasst mit Konzepten und Projekten des Informationsaustauschs zwischen Polizeibehörden, der Entwicklung der Schnittstelle von POLYGON zur Bund-Länder-Dateischnittstelle, der Entwicklung und Pflege des für alle Deliktsbereiche harmonisierten Informationsmodells in POLYGON, sowie einem Pilotprojekt, bei dem das damalige PIAV-Konzept und das Informationsmodell Polizei (IMP) – eine wesentliche Grundlage für den PIAV – in einem Praxistext [erfolgreich] erprobt wurden. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen entstand die hier vorliegende Artikelserie über „Informationsaustausch zwischen Polizeibehörden in Deutschland und die bisherige Geschichte des PIAV“.

Copyright und Nutzungsrechte

(C) 2016ff CIVES Redaktionsbüro GmbH
Sämtliche Urheber- und Nutzungsrechte an diesem Artikel liegen bei der CIVES Redaktionsbüro GmbH bzw. bei dem bzw. den namentlich benannten Autor(en). Links von anderen Seiten auf diesen Artikel, sowie die Übernahme des Titels und eines kurzen Textanreißers auf andere Seiten sind zulässig, unter der Voraussetzung der korrekten Angabe der Quelle und des/der Namen des bzw. der Autoren. Eine vollständige Übernahme dieses Artikels auf andere Seiten bzw. in andere Publikationen, sowie jegliche Bearbeitung und Veröffentlichung des so bearbeiteten Textes ohne unsere vorherige schriftliche Zustimmung ist dagegen ausdrücklich untersagt.