Vom Zweitnutzen verhinderter Terroranschläge – Fortsetzung

Frankfurter Oberlandesgericht findet keine Bestätigung für den angeblich „bevorstehenden“ Terroranschlag, der dank Hessendata angeblich verhindert wurde
Einen großen Erfolg vermeldete der hessischen Innenminister Beuth einen Tag, bevor der Untersuchungsausschuss über Vergabepraktiken in seinem Geschäftsbereich die Arbeit aufnahm. Maßgeblich ging es dabei um die Beschaffung von Hessendata / Palantir. Dank dieser Analyseplattform, so der Innenminister, sei bereits ein bevorstehender Terroranschlag verhindert worden. Eineinhalb Jahre später erging ein Urteil gegen den jugendlichen Angeklagten. Zwei Jahre auf Bewährung, umgehende Freilassung nach eineinhalb Jahren U-Haft. Konkrete Belege für den „bevorstehenden“ bzw. „verhinderten“ Terroranschlag konnte das Gericht nicht finden. | Lesedauer: Ca. 4 Minuten

Rückblick auf die Beschaffung der Analyseplattform Hessendata / Palantir

Die Vorgeschichte

Wir schreiben das Jahr 2016. Im hessischen Landespolizeipräsidium und Innenministerium besteht Handlungsbedarf zur zügigen Beschaffung eines neuen Softwarewerkzeugs für die Fallbearbeitung komplexer Verfahren. Das bisher favorisierte, meist mit eigener Kraft entwickelte Werkzeug CRIME war in die Jahre gekommen und sollte wegen technischer Mängel und Sicherheitsbedenken aus dem Verkehr gezogen werden. Mehrere Terroranschläge in den vergangenen Monaten machten die Beschaffung einer geeigneten Analyseplattform, insbesondere für den polizeilichen Staatsschutz, auch fachlich dringlich.

Dienstreise und frühe Festlegung aus dem Ministerium

Gefallen fand eine Führungsriege der hessischen Polizei am Produkt des amerikanischen Herstellers Palantir. Der Innenminister, der Landespolizeipräsident und andere hochrangige Polizeibeamte aus Präsidien und dem MI überzeugten sich von der Tauglichkeit der Software bei einer Reise im Sommer 2016 ins Silicon Valley. Mit Hinweis auf die besondere Dringlichkeit wurde mit Erlass vom 19.12.2016 eine Analyseplattform von Palantir beschafft.

Endgültige – freihändige – Beschaffung wegen angeblicher Ausschließlichkeitsgründe

2017 stand die ergebnisoptimierte Gestaltung des Beschaffungsprozesses auf dem Plan: Obwohl das System für den beim LKA angesiedelten Staatsschutz vorgesehen war, wurde die Zuständigkeit im April 2017 an die Staatsschutzabteilung im Polizeipräsidium Frankfurt übertragen. Von dort aus wurde auch der weitere Beschaffungsprozess fachlich begründet, d.h. die Beschaffung vehement befürwortet. Wie nicht selten in der hessischen Polizei wurde auch dieser Auftrag freihändig vergeben, ohne belegbare Marktsichtung und ohne potenziellen Wettbewerb einzuschalten.

Am 17.12.2017 wurde der Vertrag mit der deutschen Tochter Palantir Technologies GmbH geschlossen und am 2.2.2018 die Vergabe bekannt gemacht . In der Vergabebekanntmachung hieß es, dass dieser Auftrag freihändig vergeben werden MUSSTE, weil er angeblich nur von diesem Unternehmen (Palantir) durchgeführt werden könne.

Gutachter und Opposition im Untersuchungsausschuss waren anderer Meinung

Eine Behauptung, die bei dem ein halbes Jahr später eingesetzten Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag heftigen Widerspruch auslöste: Denn es gab durchaus Wettbewerb, wie ein Gutachter im Ausschuss ausführte. Alle drei (damaligen) Oppositionsparteien legten eigene abweichende Berichte zum Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses vor: Nach Meinung der SPD erfolgte „die Vergabe in rechtswidriger Weise“. Die FDP hielt das Verfahren für „fehlerbehaftet“ und die LINKE sah in der freihändigen Vergabe eine „gefährliche Entwicklung, die es aufzuhalten gilt“.

Welche Mitarbeiter – in Deutschland – arbeiteten 2017 für die deutsche Palantir-Tochter?


Die Vergabe wirft auch außerparlamentarisch einfache, aber wesentliche Fragen auf. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ausweislich ihres veröffentlichten Jahresabschlusses für das Jahr 2017 hatte die Firma Palantir Technologies GmbH im genannten Geschäftsjahr „0 Mitarbeiter“. Wer erbrachte bzw. erbringt also die Leistungen zum BETRIEB der Analyseplattform für die Polizei Hessen zur effektiven Bekämpfung des islamistischen Terrorismus …“ wie es in der Auftragsbekanntmachung hieß?

Ein jugendlicher Iraker gerät ins Netzwerk der Polizei

Dass die Beschaffung der Palantir-Analyseplattform in Hessen für sein Leben eine wesentliche Rolle spielen würde, war dem damals ca. 18 Jahre alten Iraker Deday A. sicher nicht bewusst.

Unglücklicher Zeitpunkt: Vor Silvester Chinaböller kaufen …

Vor Silvester 2017 hatte der sich Chinaböller besorgt. Einer von denen wiegt zwischen 30 und 40 Gramm. 75 Gramm Schwarzpulver stellte die Polizei später in der Wohnung seiner Eltern fest. Das nebenstehende Foto zeigt die gleiche Menge an Haushaltszucker.

Terrorismus-Azubi?! Macht über Facebook und Telegram Terrorwerbung

Zwischen Weihnachten 2017 und dem 10.1.2018 forderte er bei Facebook eine später nicht identifizierte Person auf, sich dem ‚Islamischen Staat‘ in Syrien oder dem Irak anzuschließen und dort einen Selbstmordanschlag zu begehen. Und am 11.2.2018 schließlich schickte er über den Messenger-Dienst ‚Telegram‘ ein IS-Propaganda-Video an einen anderen nicht identifizierten Chatpartner mit einer Bauanleitung für eine Einzellader-Flinte. Daraufhin schlug die Polizei zu. Am 13.2.2018 wurde der Iraker in Eschwege verhaftet.

Unter Rechtfertigungsdruck: Die nicht ganz richtigen Behauptungen von Innenminister Beuth

Mit diesen Ermittlungsergebnissen der Polizei, jetzt nachzulesen im Urteil des OLG Frankfurt, sah Innenminister Beuth die Beschaffungsentscheidung für Palantir alias Hessendata gerechtfertigt. Denn „wir konnten dank des gezielten Einsatzes der Software durch unsere Analysten bereits einen bevorstehenden Anschlag verhindern“, verkündete er einige Monate später. Das war, genau gesagt, am 2.7.2018, einen Tag, bevor im hessischen Landtag der erwähnte Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufnahm, um sich insbesondere die Vorgänge rund um die Beschaffung von Hessendata / Palantir genauer anzusehen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt brauchte sehr viel länger … und kam zu anderen Feststellungen

Am 4.12.2018 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main Anklage gegen den Mann. Ende Februar 2019 begann die Hauptverhandlung, die zunächst bis Ende Juni 2019 terminiert war. Weitere Termine mussten angesetzt werden, sodass am 16.8.2019 mit einem Urteil gerechnet wurde. Danach wurden erneut weitere Verhandlungstermine angesetzt und – endlich – am 9.9.2019 erging dann die Entscheidung: Der Staatsschutzsenat am OLG Frankfurt verurteilte den Iraker zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Der saß seit dem 13.2.2018 in U-Haft und wurde umgehend auf freien Fuß gesetzt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch der Angeklagte können gegen das Urteil Revision einlegen, über die dann der Bundesgerichtshof zu entscheiden hätte.

Von der „Verhinderung“ eines „bereits bevorstehenden Anschlags“, wie Innenminister Beuth behauptet hatte, findet sich nichts in der Presseinformation des Gerichts über das Urteil . Dort heißt es, der Angeklagte habe einen „nicht näher konkretisierten Anschlag in der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet“ mit Hilfe des oben schon erwähnten Schwarzpulvers aus den Chinaböllern. Er sei „fest entschlossen“ gewesen, daraus einen Sprengsatz herzustellen und den „zu einem nicht bekannten Zeitpunkt an einem unbekannten Ort zu zünden“, „um viele Menschen nicht-muslimischen Glaubens zu töten und zu verletzen“.

Die zutreffende Charakterisierung für dieses Vorgehen wäre die eines Gefährders. Doch davon gibt es viele. Dumm gelaufen also für den Iraker Deday A., der instrumentalisiert wurde, um für die Rechtfertigung einer umstrittenen Beschaffungsentscheidung herzuhalten.

Artikel zum gleichen Thema

Der Zweitnutzen verhinderter Terroranschläge, 01.02.2019
https://police-it.net/der-zweitnutzen-verhinderter-terroranschlaege
Das Palantir-Dossier, und darin insbesondere

Teil 4 des Palantir-Dossiers von POLICE-IT: Palantir in Hessen – vereint Daten von Facebook & Co mit polizeilichen Datenbanken??
https://police-it.net/dossiers-2/das-palantir-dossier/palantir-in-hessen-vereint-daten-von-facebook-und-co-mit-polizeilichen-datenbanken

Teil 6 des Palantir-Dossiers von POLICE-IT: Palantir Gotham alias Hessendata: Dammbruch in der polizeilichen IT
https://police-it.net/dossiers-2/das-palantir-dossier/palantir-gotham-alias-hessendata-dammbruch-in-der-polizeilichen-it

Quellen

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