Die Geschichte von INPOL-Neu bzw. INPOL-Neu-Neu


Wenn es einen Meistertitel gibt in der Disziplin ‚Das Rad neu erfinden‘, so gebührt er der deutschen Polizei und ihrer IT-Planung und -Konzeption. Das Rad, das seit nun fast zwanzig Jahren neu erfunden wird, heißt „Erkennen von Tat-Tat und Tat-Täter-Zusammenhängen“, um Straftaten von länderübergreifender Bedeutung analysieren und auswerten zu können [1]. Ab 2007 oblag diese Aufgabe dem PIAV, dem Polizeilichen Informations- und Analyseverbund. Der hat – meiner Schätzung nach – mehr als 100 Mio Euro gekostet, in den zwölf Jahren seither genau EINE funktionsfähige Ausbaustufe für den Deliktsbereich Waffen- und Sprengstoffdelikte hervorgebracht. Inzwischen wird das nächste Projekt durchs sprichwörtliche Dorf getrieben. Jetzt heißt das Ganze Polizei 2020, doch die Versprechungen sind im Wesentlichen die alten geblieben.

Man fragt sich, wie oft diese Absichtserklärungen noch als bahnbrechend und neu verkauft werden und auf welche Vergesslichkeit bzw. Desinteresse beim Leser die Urheber solcher Slogans eigentlich setzen. Denn all dies wird bereits seit mehr als zwanzig Jahren versprochen: Schon im „Konzept für die Fortentwicklung des polizeilichen Informationssystem INPOL“ von 1990 (sic!) [2] gehörte es zu den INPOL-Grundsätzen, dass „jedes Datum nur einmal eingegeben werden und automatisch für verschiedene INPOL-Anwendungen verfügbar gemacht werden“ soll. 1998 konnte man in der Festschrift des BKA zum 75. Geburtstag von Horst Herold (, dem geistigen Vater von INPOL) nachlesen, dass über den Kriminalpolizeilichen Meldedienst (KPMD) „so gut wie keine Tat-/Tat- oder Tat-/Täter-Zusammenführungen erfolgen“ und dieser Meldedienst daher „einzustampfen“ sei. INPOL-Neu sei das System der Zukunft, das den KPMD und die Sondermeldedienste ablösen werde.

Das Scheitern von INPOL-Neu

Doch daraus wurde nichts: Die Einführung des Systems INPOL-Neu, an der das Bundeskriminalamt und die Länder seit 1992 gearbeitet hatten, und das seit 1998 in eine ‚Realisierungsphase‘ eingetreten war, wuchs sich vielmehr zum totalen Flop aus: Testläufe im April 2001 zeigten, dass das System nicht lauffähig war und es zu kompletten Systemabstürzen kam [3]. Zum Zeitpunkt der Terroranschläge vom 11. September 2001 verfügten die deutschen Polizeibehörden nicht über ein Verbundsystem, das die Suche und Auswertung nach Zusammenhängen mit den Tätern bzw. den Anschlägen hätte herstellen können [4]. Daran sollte sich, wie die Untersuchungen zu den fehlgeschlagenen NSU-Ermittlungen zeigten, auch noch jahrelang nichts ändern [siehe auch unseren Beitrag ‚Was hat Informationstechnik mit den NSU-Ermittlungen zu tun?!‘].

Evolution statt Revolution

Statt der angekündigten ‚Revolution‘ des polizeilichen Informationssystems gab es eine allmähliche ‚Evolution‘: Ursächlich dafür waren „Fehleinschätzungen hinsichtlich Zeitbedarf und Machbarkeit“, wie es der neue IT-Direktor des BKA, ein gewisser Harald Lemke, formulierte [5]: Die ‚Evolution‘ bestand darin, dass man sich bei INPOL-Neu nur noch auf die unabdingbaren Kernfunktionen beschränkte, wie Personen- und Sachfahndung, Kriminalaktennachweis (KAN) oder Datenbanken mit erkennungsdienstlichen Daten (ED). Der KPMD, die Sondermeldedienste, die SSD = Straftaten-/Straftäterdatei und, damit zusammenhängend, der ambitionierte Anspruch vom Erkennen von Tat-/Tat bzw. Tat-/Täter-Zusammenhängen fiel dagegen unter den Tisch. Und dort liegt er – bis heute.

Aus CRIME wird INPOL-Fall gemacht

Bedingt durch das Scheitern bei der Entwicklung von INPOL-Neu nahm man beim Bundeskriminalamt auch Abstand davon, ein solches System zum Erkennen von Zusammenhängen selbst entwickeln zu wollen. Denn Harald Lemke, der kurz zuvor aus Hamburg abgewanderte und für das BKA angeworbene neue IT-Direktor, konnte mit Alternativen aufwarten und Hoffnung verbreiten: Lemke war von 1998 bis 2002 IuK-Leiter der Polizei in Hamburg und hatte dort schon einmal die Kastanien aus dem Feuer geholt, nachdem die Entwicklung und Einführung eines polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystems namens ComVor(I) gründlich aus dem Ruder gelaufen war. Der dortige Behördenleiter, Ernst Uhrlau, berief in dieser Situation Lemke als den Krisenmanager. Der hatte es in Hamburg mit tatkräftiger Unterstützung externer Firmen, darunter u.a. Microsoft und Oracle, nicht nur geschafft, ein lauffähiges Vorgangsbearbeitungssystem ComVorzur Einführung zu bringen. Er ließ auch noch zwei weitere Systeme entwickeln, nämlich POLAS – ein Informationssystem für Fahndungs- und klassische polizeiliche Auskunftszwecke, sowie CRIME, die „Criminal Research Investigation Management Software“.

INPOL-(Neu-Neu-)Bund

Im Bund-Länder-Projekt INPOL-Neu brannte es im Sommer 2001 lichterloh und der damalige Bundesinnenminister Schily drängte auf umgehende Einführung eines funktionsfähigen Systems. Lemke, der neue IT-Direktor des Bundeskriminalamts, trumpfte sogleich mit seinem ersten Brautgeschenk auf: Das gescheiterte (ursprüngliche) INPOL-Neu wurde sang- und klanglos eingestampft und durch POLAS ersetzt. Dieses Datenbanksystem wurde zum zentralen Kern des polizeilichen Informationsverbunds INPOL-Neu(-Neu). Heute heißt dieses System beim BKA INPOL-Z(entral).

INPOL-Neu(-Neu)-Land und die Geburtsstunde des Inpol Polas Competence Centers (IPCC)

Es wäre unfair, für das Scheitern des Projekts INPOL-Neu allein das BKA verantwortlich zu machen. Mitbeteiligt waren die Länder, die sich in der INPOL-Neu-Entwicklungsphase zusammengeschlossen hatten zu AGIL, der Arbeitsgemeinschaft INPOL-Land. Damals wie heute steht bei den Ländern das jeweilige Landesinteresse im Vordergrund. Und damals wie heute ist es Gepflogenheit, das Maximum aus einer vor allem „fachlichen“ Sicht zu fordern, ohne systemischen oder technischen Rahmenbedingungen angemessenen Raum zu geben. Eine erschreckende Kakophonie solcher Anforderungen der Länder war nicht unmaßgeblich für das Scheitern des ursprünglichen INPOL-Neu.

Auch sie waren geschockt vom Ausmaß der Pleite mit INPOL-Neu und stimmten daher, ohne den sonst üblichen öffentlichen Diskurs über die Schuldfrage, dem neuen Weg zu INPOL-Neu-Neu zu: Es wurde das IPCC errichtet, das Inpol Polas Competence Center, das ist eine Entwicklungskooperation der Länder ohne eigene Rechtsform, die die Aufgabe übernahm, das INPOL-(Neu-Neu)-System weiter zu entwickeln und zu pflegen. Das BKA gab seinen diesbezüglichen gesetzlichen Auftrag insofern ab an das IPCC.

INPOL-Neu-Neu geht in Betrieb

Knapp zwei Jahre nach dem Scheitern des ursprünglichen INPOL-Neu gab es im Sommer 2003 dann den Neustart für INPOL-Neu-Neu. Von Seiten des BMI, des BKA oder der Länder bemühte sich keiner um die Klarstellung, dass das INPOL-Neu von 2003 eine völlig andere Entwicklung war als das in den Sand gesetzte [3] INPOL-Neu von 2001. Der dafür verantwortliche Projektleiter erklärte, dass der weitere Ausbau nunmehr „stufenweise“ vorangehen solle. Vom Erklimmen der weiteren Stufen war dann allerdings öffentlich nichts mehr zu hören. Inzwischen hat man auch erkannt, dass das Ziel mit dem PIAV nicht zu erreichen ist, lässt den sang- und klanglos ruhen und widmen sich dem nächsten, noch gigantischeren Projekt namens Polizei 2020.

INPOL und INPOL-Fall, die Systeme im Echtbetrieb bis heute, werden seit Jahren nicht mehr weiterentwickelt

Am eingeführten INPOL wird nicht mehr viel getan. Auch für INPOL-Fall, erklärte der Projektleiter schon 2007 in einem Gespräch mit mir, werde „er“ keinen müden Euro mehr in die Hand nehmen. Es kam dann zwar ein wenig anders, ein paar Millionen für Wartung und Pflege mussten schon noch ausgegeben werden. Doch aktuell steht Deutschland so „nackt“ da, wie vor 2006, wenn es um die automatisierte Weiterleitung von Informationen von allen INPOl-Teilnehmern nach einem Anschlag oder einer Großschadenslage geht (siehe dazu auch ‚Informationsfluss bei der Polizei im Postkutschentempo‘). Die jüngste Anfrage zu diesem Thema hat POLICE-IT im Februar 2019 beim BMI gestellt und – wie in den Jahren zuvor – erfahren: Automatisiert geht da so gut wie gar nichts. Wenn, wie nach den Anschlägen vom Juli 2005 in London, in Deutschland auch mehr als hunderttausend Hinweise in den ersten 24 Stunden bei der Polizei auflaufen sollten, so müssten die für eine Übermittlung an das BKA weitgehend abgetippt werden. Ein wichtiger Hinweis kann also auch diesmal wieder versacken, so wie schon im Fall der Schleyer-Entführung …

Quellen zu diesem Beitrag

[1]   Polizeiliche Datensysteme zur Erfassung und Analyse Politisch motivierter
Kriminalität – rechts, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
Bündnis90/Die Grünen, 16.09.2013, DBT-Drs. 17/14753
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/147/1714753.pdf

[2]   Grundsätze für Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der polizeilichen Datenverarbeitung
im Rahmen des Informationssystems der Polizei INPOL, BMI – P I 5 – 006 123-010-9/9,
zitiert nach Dieter Küster: Informationstechnologie – Entwicklung und Auswirkungen
auf die Polizei in H.L. Zachert (Hrsg.) 40 Jahre Bundeskriminalamt.

[3]   Neues Fahndungssystem wird zum Millionengrab, 29. 05.2001, SpiegelOnline
http://www.spiegel.de/panorama/bundeskriminalamt-neues-fahndungssystem-wird-zum-millionengrab-a-136815.html

[4]   Schwierigkeiten bei der Einführung des Fahndungscomputernetzes INPOL-Neu,
05.12.2001, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion,
DBT-Drs 14/7734
http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/077/1407734.pdf

[5]   Polizei-Informationssystem: Nach nur zwei Jahren entpuppte sich INPOL-Neu als 60-Mio-Euro-Flop, VDI-Nachrichten

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