Im Falle des Attentäters vom Breitscheidplatz, Anis Amri, wusste die Berliner Polizei – angeblich – nicht, was sie hätte wissen können: Weil die Weisung der Staatsanwaltschaft und der Beschluss eines Richters zur verdeckten Observation des späteren Attentäters in der Polizei – angeblich – missachtet wurde. Der Fehler lag – angeblich – irgendwo in der Polizei. Wo es – so will man hier glauben machen – schon mal vorkommen kann, dass eine staatsanwaltschaftliche Weisung und ein richterlicher Beschuss einfach nicht umgesetzt werden …
Laut Staatsanwaltschaft und richterlichem Beschluss soll Amri beschattet werden …
Es wird immer toller: Das Politmagazin Kontraste des RBB berichtete am 01.06.[1]: Die Verdachtsmomente gegen den Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, hatten sich im Sommer 2016 weiter verdichtet. Amri war nicht nur mehreren Sicherheitsbehörden bekannt als Gefährder und damit als potentieller Täter für einen Anschlag, er war auch aufgefallen als rühriger Drogenhändler. Der zuständige Beamte im Berliner Landeskriminalamt, so berichtet es Kontraste, warnte daher am 19.08.2016: „dass der Grad konspirativen Verhaltens sich weiter gesteigert hat. Die Verfolgung des in Rede stehenden Tatplanes [für einen terroristischen Anschlag / d. Verf.] steht weiterhin zu besorgen.“ Der zuständige Generalstaatsanwalt von Berlin reagierte umgehend. Er sah eine Chance, dem Amri, wenn schon nicht über einen (ja noch nicht begangenen) Anschlag, dann über dessen Aktivität als Drogenhändler beizukommen. Und beantragte daher eine längerfristige Observation. Der Ermittlungsrichter erließ den dafür notwendigen Beschluss umgehend und zwar für den Zeitraum bis Ende Oktober 2016. Die Staatsanwaltschaft dachte, damit alles Notwendige getan zu haben. Jetzt war die Polizei am Zug.
Das kümmert im Berliner Landeskriminalamt angeblich niemanden …
Dass die Staatsanwaltschaft bei Strafverfolgungsmaßnahmen gegenüber der Polizei entscheidungsbefugt ist, sahen einige im Berliner Landeskriminalamt – angeblich – anders: Der vorliegende Beschluss zur Observation von Amri wurde daher – angeblich – einfach nicht umgesetzt. Es gab demzufolge – angeblich – niemanden, der den Amri beschattet hätte. Amri ging denn auch – das ist inzwischen Fakt – über Wochen hinweg seinen Aktivitäten nach und bereitete sich – Schritt für Schritt – auf den Anschlag vor [2]. Was damals – angeblich – keiner bemerkte, da Amri ja nicht beschattet wurde. Und weshalb sich deshalb – ganz plausibel – auch keinerlei Vermerke über die bei der Beschattung gewonnenen Erkenntnisse in den Ermittlungskarten finden.
Ein so eklatante Verletzung von Dienstpflichten hat – offenbar – auch keine Auswirkungen …
Die angebliche Nicht-Beschattung steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass es (a) sowohl eine staatsanwaltschaftliche Weisung für die Beschattung gab und (b) als auch den dafür notwendigen richterlichen Beschluss. Ein zuständiger Ermittlungsführer in der Polizei, der sowohl eine solche Weisung, als auch den Beschluss einfach ignoriert, setzt sich dem im Übrigen sehr leicht nachweisbaren Verdacht der Strafvereitelung im Amt aus und hat mit schwerwiegenden disziplinarrechtlichen Folgen zu rechnen.
Stattdessen werden – angeblich – Fake-Vermerke in den Ermittlungsakten fabriziert …
Das ist im Berliner LKA jedoch – angeblich – kein Problem für den Betroffenen: Es findet sich da nämlich in den Polizeiakten ein Aktenvermerk eines „Oberkommissars L.“, der dem Magazin Kontraste auch vorliegt [wie er dahin gekommen ist, wäre eine spannende, aber andere Frage …] Darin heißt es: „… die Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung wurden am 21.9.2016… beendet. Im Rahmen der parallel durchgeführten [sic!] Observationsmaßnahmen konnten keine Handelstätigkeiten des Amri festgestellt werden.“
Nimmt man diesen Aktenvermerk für bare Münze, so wurde die Telekommunikation von Amri vom Berliner LKA seit dem 21.09.2016 nicht mehr überwacht und es fanden sich – bei den „angeblich“ durchgeführten Beschattungen, die andererseits angeblich dann doch nicht durchgeführt wurden, auch keine Anhaltspunkte für eine Tätigkeit des Amri als Drogenhändler. Könnte man noch besser erklären, warum die Berliner Polizei nichts weiß??
Darüber zeigt sich der Generalstaatsanwalt „sehr verärgert“
Dumm ist in dieser Sache nur, dass der Aktenvermerk über die angeblich durchgeführten, tatsächlich aber angeblich doch nicht durchgeführten Observationen – angeblich – fabriziert wurde und damit nicht die tatsächlichen Umstände wiedergibt. Denn die behauptete „parallel durchgeführten Observationsmaßnahmen“ hatten – angeblich – gar nicht stattgefunden. Sagt Kontraste. Und beruft sich dabei auf die Aussage des Berliner Generalstaatsanwalt als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags in Nordrhein-Westfalen: Der sei nämlich „sehr verärgert gewesen“, dass die Observationsidee nicht weiter verfolgt wurde und dass von Seiten des Berliner LKA auch keine Informationen über den Zwischenstand gegeben wurden.“ Was wohl heißen soll: Wir, die Staatsanwaltschaft, haben auch nichts gewusst, insbesondere nicht, dass der Amri entgegen unserer Anweisung und dem vorliegenden richterlichen Beschluss nicht überwacht wurde.“
Das sind dann schon zwei Paar Hände im Waschbecken der Unschuld …
Mein Kommentar
Ich zweifle diese Aussage der Staatsanwaltschaft nicht an und auch nicht die Berichterstattung von RBB/Kontraste.
Ich bezweifle allerdings die hier – wieder einmal – vorgebrachte Interpretation, die mit den angeblichen Ereignissen gleich mitgeliefert wird: Vom Fehler eines einzelnen Beamten, der eine dienstliche Weisung nicht befolgte und den Beschluss nicht umsetzte, davon, dass Fehler passieren, wo Menschen agieren, und davon, dass – wie immer in den letzten Jahrzehnten bei Fehlern in den Sicherheitsbehörden es sich um den bedauerlichen Einzelfall handelt, der nicht wieder vorkommen soll …
Denn die wenigen, hier überhaupt vorliegenden Belege erlauben auch eine …
ganz andere Interpretation und Hypothese
Dass es nämlich eine Instanz in der Polizei?, im Verfassungsschutz? ggf. auch auf Bundesebene? oder in der beide beaufsichtigenden Politik? – gegeben hat, die in dem Amri eine Quelle von möglichen und erhofft weiterführenden Erkenntnissen gesehen hat über die islamistisch motivierte Gefährderszene. Und die diese Quelle behalten und schützen wollte.
Ein Team von Observanten der Polizei, die dem Amri ständig auf den Fersen sind, hätte diese Absichten nur gestört. Umso mehr, wenn diese Observanten auch noch pflichtgemäß entsprechende Observationsvermerke für die Akten gefertigt hätten.
Oder, wenn es diese Observationen tatsächlich gegeben haben sollte: Ihre – in den Akten dann zwangsläufig vorliegenden Observationsberichte – wären nach dem Anschlag extrem störend: Würden sie doch belegen, dass Erkenntnisse vorlagen über die zunehmende Gefährlichkeit des Amri, ohne dass die Sicherheitsbehörden gefahrenabwehrend eingeschritten sind.
Beide hypothetisch möglichen Alternativen, nämlich
- die Verhinderung der Observation trotz Weisung des Staatsanwalts und richterlichen Beschlusses oder
- die Unterdrückung von Erkenntnissen, die aus der tatsächlich durchgeführten Observation vorliegen,
können nach dem Anschlag durch die Sicherheitsbehörden bzw. die über sie dienstaufsichtsführenden politischen Institutionen nicht zugegeben werden.
Aus diesem Grund wird auch in diesem Fall, wie schon so oft bei eklatanten Versäumnissen der Sicherheitsbehörden, wieder DER Standard der Ausflüchte gezogen: Ein Fehler! Begangen von einem Menschen! Ein bedauerlicher Einzelfall! Aus dem keinesfalls Verallgemeinerung gezogen werden können!
Mit jeder weiteren Story dieser Art, wird noch mehr Glaubwürdigkeit zerstört: Es wird Zeit, dass unabhängige Ermittler mit der Aufklärung des „Falles Amri“ und seines Hintergrunds betraut werden und die entsprechenden Befugnisse erhalten. Vor allem auch deswegen, weil die bisher praktizierte Nicht-Aufklärung, das Ausweichen, Vertuschen und Tricksen ein nicht zu akzeptierender Ausdruck ist von fehlendem Respekt, Ignoranz und Zynismus gegenüber den Toten vom Breitscheidplatz und ihren Angehörigen und gegenüber den vielen Verletzten und Betroffenen dieses Anschlags.
Quellen
[1] Berlienr Staatsschützer kontrollieren sich im Fall Amri selbst, 01.06.2017, 21.45, Kontraste / RBB
http://www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste-vom-01-06-2017/umstrittene-aufklaerung-berliner-staatsschuetzer-kontrollieren-sich-im-fall-amri-selbst.html
[2] Erklärung vom 12. April 2017 zum Stand der Ermittlungen wegen des Anschlags vom 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, PM 33/2017, Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=19&newsid=691
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