Der Anschlag in Berlin hätte verhindert werden können

Update vom 19.01.2017, 06.20 Uhr:

Zur Abschiebung von Amri wurde niemals ein Richter gefragt

De Maizière täuscht die Öffentlichkeit mit seiner Forderung nach schnellerer und schärferer Abschiebehaft [1]: Tatsache ist vielmehr: „Die Gefährlichkeit von Anis Amri hat nie ein Richter bewerten müssen“. Die Behörden seien davon ausgegangen, dass die vorliegenden Informationen für einen Haftbefehl nicht reichen [2]. Wozu gibt es dann eigentlich noch Richter, wenn Polizei, Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz selbst entscheiden, was „wohl“ ausreicht für einen Haftbefehl und was nicht?

Das Argument riecht stark nach nachträglicher Ausrede. Und gibt der Vermutung weitere Nahrung, dass Polizei und Verfassungsschutz den Amri haben laufen lassen, nur „aus dem Hintergrund“ beobachtet, in der Hoffnung auf mehr Information. Wie Burkhard Lischka schon sagte: „Ein Spiel mit dem Feuer“. Am 19.12. hat dieses unverantwortliche Spiel zwölf Menschen das Leben gekostet, etliche verletzt und zahlreiche Familien ins Unglück gestürzt. In dieser Situation hat der Innenminister die Stirn, mehr Kompetenzen für sein Ministerium zu fordern und einen Behördenumbau, sowie weitere Gesetzesverschärfungen als „erforderliche Konsequenz“ auszugeben.

Wagenknecht nannte De Maizière gestern „eine Fehlbesetzung“. Ströbele verlangte seinen Rücktritt, wie auch den von BfV-Präsident Maaßen. Die Zeit dafür ist reif!

Aktuelle Stunde im BUndestag

Am Nachmittag fand im Bundestag eine Aktuelle Stunde zu „Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit“ statt. Bundesinnenminister De Maizière trug die Entschlossenheit ans Rednerpult, die er schon in den letzten Wochen zur Schau gestellt hatte: „Ich beteilige mich nicht an Schuldzuweisungen. Ich konzentriere mich auf die erforderlichen Konsequenzen.“ [2] Diese bestehen nach seinen Ansichten in mehr Zentralisierung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden beim Bund und weiteren Gesetzesverschärfungen. Das ist Terrorbekämpfung vom Schreibtisch aus!

Gegenwind für den Bundesinnenminister aus den eigenen Reihen

Gleich mehrere Abgeordnete der Opposition und des Koalitionspartners SPD griffen diese Haltung an. Eine Analyse der offenbar zahlreichen Versäumnisse der Sicherheitsbehörden sei sehr wohl notwendig, bevor man Konsequenzen ziehen könne. De Maizière solle seine Hausaufgaben machen und die Angelegenheit Amri in den eigenen Behörden untersuchen, forderte Christian Ströbele: Statt diese Aufgaben einem Untersuchungsausschuss zu delegieren, dem der Innenminister generös zustimmen will. Derzeit lehnen alle Fraktionen im Bundestag einen solchen Untersuchungsausschuss ab. / d. Verf.

Der Obmann der SPD im Innenausschuss, Burkhard Lischka, glaubt nicht, dass eine „Behördenbaustelle“ in der aktuellen Situation für mehr Sicherheit sorgen könnte. Er spielte damit auf die Forderung von De Maizière an, der den Verfassungsschutz zentralisieren und die Landesämter für Verfassungsschutz zu Außenstellen des Bundesamts für Verfassungsschutz machen möchte. Eine stärkere Zentralisierung, fuhr Lischka fort, führe nicht zwangsläufig zu einem stärkeren Staat. Das war eine überraschend deutliche Abgrenzung des führenden SPD-Innenpolitikers gegenüber dem Innenminister und seinen Vorstellungen. Und noch ein zweiter Seitenhieb kam hinterher: Lischka ließ nämlich die Bemerkung fallen, dass ein vorsichtiges Beobachten von Gefährdern aus dem Hintergrund durch Verfassungsschutz und Polizei ein „Spiel mit dem Feuer“ sei. Eine Einschätzung, die immer mehr Gewicht bekommt: Denn der Anschlag in Berlin vom 19.12.2016 hätte offenbar verhindert werden können. Wenn denn die Sicherheitsbehörden so funktioniert hätten, wie der Bürger dies eigentlich erwartet …

Ströbele: Widersprüche in den Aussagen des Innenministers und bisher unbekannte Fakten

Neues für uns Nicht-Bundestagsabgeordnete kam von Hans-Christian Ströbele, u.a. Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Aus dem Bericht der Sicherheitsbehörden, der zuständigen Ausschüssen vorgelegt wurde, ergibt sich nämlich, dass De Maizière’s bisherige Aussagen in einigen entscheidenden Punkten nicht zutreffend sind:

  • Demnach hat der marokkanische Geheimdienst schon drei Monate vor dem Anschlag die deutschen Behörden ganz konkret vor Amri gewarnt. Der wolle nach Syrien bzw. Libyen ausreisen und sich dort dem IS anschließen. Er hasse Deutschland und plane konkrete „Projekte„. Eine solche Meldung kam erneut am 13.10.2016 und wurde im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) diskutiert und an das Bundesamt für Verfassungsschutz delegiert. Dort sei jedoch nichts geschehen!
  • Falsch, so Ströbele, sei auch die bisherige offizielle Darstellung, man habe den Amri nicht abschieben können, weil die tunesischen Behörden die Mitwirkung bei der Ausstellung von Ausweispapieren verweigerten. Aus dem Bericht ergebe sich, dass die tunesischen Behörden Ende Oktober die genauen Personalien für Amri übermittelt hätten. Das sei ausreichend gewesen, um mit diesen Angaben bei der tunesischen Botschaft ein entsprechendes Ausweisdokument ausstellen zu lassen und den Amri abzuschieben.
  • Ferner habe zu diesem Zeitpunkt gegen den Mann ein halbes Dutzend schwerer Straftatenvorwürfe vorgelegen, die nach Meinung des früheren Strafverteidigers Ströbele mit Sicherheit ausgereicht hätten, um einen Haftbefehl zu erwirken. [siehe Update unten]

Ströbele forderte sowohl den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Maaßen, als auch Bundesinnenminister De Maizière auf, die Verantwortung zu übernehmen, was nur als Aufforderung zum Rücktritt verstanden werden konnte.

Was sollen allein Abschiebungen bringen?! Die Hälfte der Gefährder hat einen deutschen Pass

Frank Tempel (Linksfraktion, stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses) machte darauf aufmerksam, dass die Hälfte der derzeit als islamistische Gefährder Eingestuften einen deutschen Pass hat. Aus dem Auge, aus dem Sinn!, Abschiebung als Allheilmittel, wie sie der Bundesinnenminister gebetsmühlenartig fordert, bringt in diesen Fällen also gar nichts. Viele dieser Gefährder, übrigens auch Anis Amri, hätten sich erst in Europa bzw. Deutschland radikalisiert. Was Tempel zum Anlass nahm, darauf hinzuweisen, dass soziale Betreuungsstellen gerade mal die Finanzmittel für zweieinhalb Planstellen erhalten, damit aber dann über 250 Personen [Deutsche, wie Nicht-Deutsche] zu versorgen haben.

CDU-Innenpolitiker: Zwischen Wahlkampf und Appell zur fraktionsübergreifenden Kooperation

Stephan Mayer (innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU) hatte dann vor allem wieder die Parteilinie im Sinn, insbesondere die Forderungen der CDU vor dem Wahlkampf, wie sie schon in der Berliner Erklärung der CDU-Innenminister im vergangenen Sommer enthalten waren. Und wie sie jetzt wieder auftauchen im Beschluss des CDU-Parteivorstandes zur Inneren Sicherheit vom letzten Wochenende. Eine Rede war das, wie auch die seines Fraktionskollegen Harbarth, ganz im Hinblick auf den begonnenen Wahlkampf.

Dass der CDU-Abgeordnete Harbarth (stellvertretender CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender für Recht und Inneres) mit seiner Redezeit nichts Besseres anzufangen wusste, als wieder auf der Bundesvorsitzenden der Grünen, Simone Peter, wegen ihres verunglückten Tweets zu Silvester herum zu hacken, war Zeitverschwendung und ließ auf fehlende andere Inhalte schließen. Sachlich falsch und nur als Schlag unter die Gürtellinie gedacht war dann sein Vorwurf an die Linken als neuer Regierungspartner in Berlin. Denen warf er Versäumnisse vor im Zusammenhang mit dem Anschlag am 19.12.2016 in Berlin, wohl wissend, dass zu diesem Zeitpunkt noch sein CDU-Parteikollege Henkel der verantwortliche Innensenator in Berlin war. In Technik, wie auch Stil hat sich der Abgeordnete Harbarth damit redlich die Note 6 verdient.

Armin Schuster (Obmann im Innenausschuss der CDU/CSU) dagegen appellierte an ein gemeinsames, fraktionsübergreifendes Handeln, wie man es auch im NSU-Untersuchungsausschuss in der vergangenen Wahlperiode zustande gebracht hätte. Und machte anschließend Werbung bei den Grünen im Bundestag: Sie sollten sich doch einlassen, was gestern in Baden-Württemberg zwischen dem Innenminister Strobl und Ministerpräsident Kretschmann beschlossen worden sei. Einer Zustimmung im Bundesrat zur Anerkennung der nordafrikanischen Staaten als „sichere Herkunftsländer“, dieser alten Forderung der CDU, würde man damit einen großen Schritt näherkommen.

Wie die Nachrichtenagenturen soeben melden: Drei Gefährder sind untergetaucht …

Aktuell wissen die Sicherheitsbehörden nicht, wo sich drei der islamistisch eingestuften derzeit befinden. Das war in den letzten Wochen vor dem Anschlag auch bei Anis Amri der Fall. Es wäre also nicht verfehlt, wenn sich Herr De Maizière aktuell aufs Wesentliche konzentriert, statt weiter am Umbau der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland zu basteln.

Quellen

[1]   Warum wurde AMri nicht abgeschoben?, 19.01.2017, 03:ss Uhr, Tagesschau
http://www.tagesschau.de/inland/amri-nrw-101.html

[2]   De Maizière: Entschlossen gegen radikalislamische Gefährder vorgehen, 18.01.2017, Deutscher Bundestag
http://www.bundestag.de/#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMTcva3cwMy1ha3R1ZWxsZS1zdHVuZGUtZ2VmYWVocmRlci80ODg4Mjg=&mod=mod445720

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