„Der Karren ist an die Wand gefahren!“ – „Eine Weiterentwicklung ist zwecklos!“ – „Wir müssen komplett neu aufsetzen!“ – „Und das wird kosten – und zwar – nach derzeitiger Schätzung – mindestens 62 Millionen Euro!“
So in etwa lässt sich auf den Punkt bringen, was das Bundesministerium des Innern (BMI) in seiner Antwort [1] auf eine Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag erklärte: Anlass für die Frage war der Fall des ‚Nationalsozialistischen Untergrunds‘ – NSU, der erwiesen hatte, dass das vorhandene Verbundsystem von Bundes- und Länderpolizeien für die Aufklärung des Falles ein Totalausfall war. Das soll nun besser werden mit dem PIAV, dem Polizeilichen Informations- und Analyseverbund, meint das BMI.
Folgt man der Argumentation des BMI, so ist die Einführung des PIAV ein absolutes Muss. Ursache dafür, heißt es gleich an mehreren Stellen in der Antwort des BMI, sei die „aktuell bestehende heterogene und zergliederte Dateilandschaft“. Es gebe keine „aussagekräftige kriminalpolizeiliche Informationsbasis“, die es erlauben würde, zeitnah Informationen „von ausgewählten Personen- Fall- und Sachdaten in einer gemeinsam genutzten Verbundanwendung“ bereitzustellen und dort auszuwerten.
Man steht da und ist fassungslos, mit welcher Nonchalance das verantwortliche Ministerium hier ein Totalversagen seiner untergeordneten Behörde – BKA – einräumt: Denn waren es nicht BKA und das aufsichtführende BMI, die verantwortlich sind für das aktuelle Chaos der „heterogenen und zersplitterten Dateilandschaft“?! Und wird nicht schon seit fast vierzig Jahren als Begründung für die Entwicklung immer weiterer Verbundprojekte der Polizeien des Bundes und der Länder angeführt, dass damit eine „aussagekräftige kriminalpolizeiliche Informationsbasis“ geschaffen werden soll, die es erlaubt, zeitnah Informationen „von ausgewählten Personen- Fall- und Sachdaten in einer gemeinsam genutzten Verbundanwendung“ bereitzustellen?! Sind nicht bereits Steuergelder in mindestens zweistelliger Millionenhöhe ausgegeben worden für solche Entwicklungen?! Und wer haftet eigentlich dafür, dass dabei, wie man den Erklärung des Ministeriums nun entnehmen kann, nichts funktional Nutzbares herausgekommen ist?!
Kosten und Zeitplanung für den PIAV
Welche Unverfrorenheit steckt darin, für die Entwicklung dieses PIAV eine „Gesamtkostenschätzung“ abzugeben, derzufolge weitere 62 Millionen Euro ausgegeben werden müssen, um etwas zu entwickeln, das längst vorhanden sein soll und schon teuer genug bezahlt wurde? Denn dass der PIAV funktional, technisch oder fachlich etwas wesentlich Neues bringt, gegenüber dem, was angeblich schon viel früher entwickelt wurde, ist nicht zu erkennen. Und bekanntlich wird jedes IT-Großprojekt teurer als ursprünglich geschätzt, was besonders verläßlich für die IT-Projekte des BKA gilt.
Auch die Zeitplanung hat sich allein im letzten halben Jahr erheblich nach hinten verschoben: War noch im April diesen Jahres im Bericht der Bundesregierung über die Konsequenzen nach dem Aufdecken des NSU […] davon die Rede, dass „die Entwicklungsarbeiten [zum PIAV] in Bund und Ländern Mitte 2013 beginnen … und im Jahr 2014 abgeschlossen sein sollen“, so ergibt sich aus aktuellen Vergabeankündigungen des Beschaffungsamts des BMI inzwischen etwas anderes: Dort werden Bewerber gesucht für den Auftrag zur Lieferung der Komponente PIAV-Zentral für das BKA und deren Anpassung. Dieser Teilnahmewettbewerb und die sich anschließende Angebots- und Verhandlungsphase wird sich – allein aufgrund der vergaberechtlich vorgegebenen Fristen – mindestens bis ins erste Quartal 2014 hinziehen, sodass die Entwicklung der PIAV-Zentralkomponente schon jetzt absehbar mit einer Verzögerung von neun bis zwölf Monaten beginnen wird. Erfahrungsgemäß führen Zeitverzögerungen in IT-Großprojekten regelmäßig auch zu entsprechender Kostensteigerung, sodass auch aus diesem Grund angenommen werden kann, dass es bei den im Jahr 2012 „geschätzten“ 62 Millionen Euro bei weitem nicht bleiben wird.
Lernen aus Fehlern?! – Fehlanzeige!
Für ein Ministerium, das das aktuelle Chaos (ein Ausdruck der Grünen) und funktionale Totalversagen – siehe NSU – zu verantworten hat, bedarf es schon erheblicher Dreistigkeit, diese Situation als quasi gottgegeben oder schicksalsbedingt hinzustellen. Es scheint auch noch niemand im Hause BMI oder BKA auf die Idee gekommen zu sein, nach den Ursachen zu forschen: Warum hat es das BKA in den vergangenen, zehn, bzw. zwölf bzw. zwanzig Jahren eigentlich – trotz vielfacher und vollmundiger Ankündigung und obwohl mindestens ein hoher zweistelliger Millionenbetrag dafür ausgegeben wurde – nicht geschafft, ein homogenes Verbundsystem bereitzustellen, das zur Aufklärung schwerster Straftaten beiträgt?
Wurde untersucht, ob es etwa an der mangelnden Kompetenz der Personen lag, die im BKA verantwortlich zeichneten für die Entwicklung des bisherigen Verbundsystems – Inpol-Fall? Ist dafür gesorgt, dass solche Personen nichts mehr zu tun haben mit der Entwicklung des „Nachfolgers“, nämlich des PIAV?! Oder erhalten die gleichen Leute, die schon Inpol-Fall an die Wand gefahren haben, hier erneut die Gelegenheit, auf Steuerzahler’s Kosten eine weitere Lösungsvariante auszuprobieren, ohne dass zuvor analysiert worden wäre, worin eigentlich nicht nur die fachlichen, sondern vor allem auch die technischen und systemischen Anforderungen an ein solches System bestehen?
Es steht zu befürchten, dass all diese Fragen mit einem klaren Nein zu beantworten wären, wenn denn überhaupt Antworten gegeben würden.
Denn wenn es um die Reflektion eigener Fehler bzw. die Beiziehung der Expertise von externen Sachverständigen geht, sitzt man beim BMI auf einem besonders hohen Ross: Gefragt von den Grünen, ob denn vorgesehen sei, die Funktionsfähigkeit solcher IT-Systeme einmal wissenschaftlich – durch unabhängige Sachverständige – untersuchen zu lassen, antwortete das BMI: Es sei „ständige Aufgabe der Sicherheitsbehörden“ dieses Landes, schon selbst auf die „Überprüfung von Erforderlichkeit, Geeignetheit, Verhältnismäßigkeit, Effektivität und Datenschutzfreundlichkeit“ zu achten.
Bei diesem Ausmaß von (Fehl-)Einschätzung der eigenen Kompetenz und Blindheit für eigenes Versagen auf beiden Augen, darf man schon heute gespannt sein auf die weitere Entwicklung dieses PIAV, der das Zeug hat, die unrühmliche Nachfolge anzutreten des letzten IT-Großprojekts, das von BMI und BKA in den Sand gesetzt wurde, nämlich Inpol-Neu.
Dieser Artikel ist Teil der Serie IT-Systeme und -Projekte |
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Quellen zu diesem Beitrag
[1] Polizeiliche Datensysteme zur Erfassung und Analyse Politisch motivierterKriminalität – rechts, 16.09.2013, DBT-Drs 17/14753, Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/147/1714753.pdf [2] Informationstechnik für die Fachlichkeit (5):
Was hat Informationstechnik mit den NSU-Ermittlungen zu tun?!, 05.08.2013, Polygon-Blog
http://blog.polygon.de/2013/08/05/it_fd_fachlichkeit_teil-5_itundnusermittlungen/3404 [3] Bericht der Bundesregierung über die nach dem 4. November 2011 als
Konsequenz aus dem Aufdecken der Terrorgruppe NSU sowie der nachfolgend erkennbar
gewordenen Fehler und Versäumnisse ergriffenen Maßnahmen, 26.04.2013
http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Pressemitteilungen/2013/08/bericht_ua.pdf?__blob=publicationFile