Fachforum zu Polizei 2020 – das Zukunftsprogramm der deutschen Polizei
Ein Fachforum dazu in einer halbwegs öffentlichen Veranstaltung auf dem Europäischen Polizeikongress im Februar 2019 war insofern fast schon überfällig. Man durfte gespannt sein, denn die aufgebotenen Referenten ließen aufgrund ihrer Stellung im Projektteam auf belastbare Informationen aus erster Hand hoffen: Unter der Moderation von Andreas Lezgus, Leiter des Programms Polizei 2020 beim BKA sollten referieren:
- Gerald Eder (früher zumindest beim) Bayerischen Landeskriminalamt, Koordinator der Bund-Länder-Zusammenarbeit
- Thomas Fach, Chefarchitekt im Programm Polizei 2020, Bundeskriminalamt
- Dr. Stefan Jordan, Leiter Stabsbereich 1 des Programms Polizei 2020, Bundeskriminalamt
Offensichtlich hatten Veranstalter und das Referententeam unterschätzt, WIE groß das Interesse am Thema war: Der fensterlose Saal im Keller des Kongresszentrums erwies sich nämlich als hoffnungslos zu klein, was kurz nach Beginn der Veranstaltung dazu führte, dass mindestens hundert Interessenten im Namen des Veranstalters ultimativ aufgefordert wurden, den Saal zu verlassen. Denn „Sicherheit geht vor“, was in diesem Fall Sicherheit im theoretisch möglichen Brandfall bedeutete.
Polizei 2020 – Warum, Wie, Wer und Wann?
Dann konnte es endlich losgehen, mit einem Eingangsreferat des Ltd. KD Andreas Lezgus. Der war vor seinem Wechsel zum BKA IT-Abteilungsleiter beim Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) NRW und als IT-Referent im Innenministerium NRW verantwortlich für die Planung und Steuerung der IT-Anwendungslandschaft aller Polizeibehörden in Nordrhein-Westfalen.
Die Polizei ist Lichtjahre entfernt von dem EINEN, fachlichen, technischen und organisatorischen Gesamtsystem für die Polizei im Bund und in den Ländern, in dem alle verfügbaren bzw. relevanten Informationen dann zur Verfügung stehen, wenn der einzelne Polizeibeamte sie braucht (so ist das Ziel von Polizei 2020 beschrieben.)
Tausende von verbundrelevanten Anwendungen müssen die INPOL-Konventionen einhalten
In einer aktuellen Bestandsaufnahme wurden mehr als zweitausend relevante Anwendungen im Bund und den Ländern gezählt, also solche, die Auswirkungen haben auf die Verfügbarkeit von Informationen für den Verbund. Das heute eingesetzte Verbundsystem – INPOL – ist so konzipiert, dass alle Verbundteilnehmer die sogenannten INPOL-Konventionen einzuhalten haben: Sie betreffen die auszutauschenden Nachrichten, die Art der Daten, die man sich übermitteln kann, das Format der Daten, gemeinsam festgelegte Begriffskataloge und Plausibilitätsregeln. Erfahrungsgemäß, so hat eine Erhebung des Projektteams ergeben, dauert es selbst für kleinere Änderungen/Weiterentwicklungen an diesen Konventionen mehr als zwei Jahre, bis sie auch beim letzten INPOL-Teilnehmer umgesetzt sind. Das liegt daran, dass INPOL keine eigene Programmoberfläche hat, sondern (in der Vergangenheit immer wieder stolz als „oberflächenloses System bezeichnet) mit INPOL-relevanten Informationen aus dem/den Informationssystemen des jeweiligen Teilnehmers „beliefert“ bzw. gesteuert wird. Bis also eine INPOL-relevante Änderung dann im Informationssystem des letzten Teilnehmers auch umgesetzt, getestet und funktionsfähig ist, dauert es …
Die Einführung komplexer Verfahren (PIAV?) dauert erfahrungsgemäß mehr als sechs Jahre
Bei der Einführung von komplexen Verfahren – der Versuch der Einführung von PIAV, dem polizeilichen Informations- und Analyseverbund ist da sicher ein gutes und aktuelles Beispiel – dauert es sechs Jahre und mehr; nicht zuletzt auch deshalb, weil mehr als 40 verschiedene Betreiber für diese Systeme verantwortlich zeichnen. Das können landeseigene IT-Dienstleistungsbetriebe sein, wie die HZD, die Hessische Zentrale für Datenverarbeitung oder der ZIT, der Brandenburgische IT-Dienstleister oder behördenübergreifende Dienstleister, wie Dataport, der IT-Dienstleister „für die Nordländer“, um nur einige Beispiele zu nennen.
Probleme – nicht nur zwischen Bildschirm und Rückenlehne …
Über Schwierigkeiten bei der Kommunikation, auf der zwischenmenschlichen bzw. -behördlichen Ebene und bei der Zusammenarbeit ließ Lezgus das nebenstehende Bild anstelle vieler Worte sprechen. Die gefühlt 95% der Anwesenden, die aus davon betroffenen Polizeibehörden kamen, konnten sich hörbar vorstellen, was gemeint war. Den restlichen 5% – darunter zahlreiche Anbieter-Vertreter – war das Thema ebenfalls geläufig.Was wurde aus den Fehlern bei INPOL-Neu, INPOL-Neu-Neu und PIAV gelernt?
Man sei sich klar darüber, dass das Vorhaben ‚Polizei 2020‘ weitaus mehr ein Organisations-Entwicklungsprojekt sei, als eine technische Neuentwicklung.
Bindungen an Hersteller sollen reduziert werden
Bisherige Bindungen an die Hersteller der aktuellen IT-Systeme sollten reduziert werden, die Betriebs-Dienstleister dafür stärker mit einbezogen werden. Ersteres kam als Tiefschlag an, u.a. gegen Rola: Die Firma, die mit B-Case, dem Vorläufer des eFBS und Varianten ihres Fallbearbeitungssystems RSCase zwei Drittel alle INPOL-Teilnehmer versorgt hat. Die Firma, die 2013 erst von T-Systems übernommen wurde, bevor sie zum Auftragnehmer für das Projekt PIAV-Operativ Zentral gemacht wurde. Und damit auch (noch?) für das Kernsystem im künftigen Polizei 2020 verantwortlich zeichnet. Ich empfand diesen Tiefschlag als populistisch, zumal nicht ausgeführt wurde, wer denn die dann entstehende Lücke schließen sollte und wie das zu finanzieren ist.
Weitere Vorschläge aus dem Koffer des Projektmanagement-Seminarreferenten
Was dann noch folgte, klang sehr nach Projektmanagement-Seminar vom großen IT-Beratungshaus. Beginnend mit Zielen, die sich einfach niederschreiben lassen, wie Verfügbarkeit der Informationen, sowohl für strukturierte, als auch für unstrukturierte Informationen, Verbesserung der Analysefähigkeit, Wirtschaftlichkeit durch Verwendung einheitlicher Lösungen usw.
Banner dieser Art standen bisher am Beginn jedes neuen Anlaufs zur Verbesserung des polizeilichen Verbundsystems, egal, ob man an INPOL-Neu denkt oder an den PIAV. Ich hätte mehr und anderes erwartet, zweieinhalb Jahre nach dem Startschuss für Polizei 2020 und NACHDEM die deutsche Polizei schon viel Lehrgeld gezahlt hat für die Erkenntnis, WIE GEMEINSAME ENTWICKLUNGEN FÜR DEN VERBUND NICHT FUNKTIONIEREN.
Diese Kritik gilt auch und insbesondere für die Methoden und Verfahren, die man anzuwenden gedenkt. Kooperationen, teamorientiertes Arbeiten, gemeinsame Services, das klingt alles wunderschön. Beantwortet aber nicht die Frage, was man aus der Vergangenheit gelernt hat und anders machen will, damit die erklärten Ziele diesmal auch tatsächlich erreicht werden. Das verdeutlicht auch die dritte und letzte Folie aus dem Vortrag von Progammleiter Lezgus: Die vier wichtige Fragen aufwirft. Mit dem Satz „Das Geheimnis der Digitalisierung ist analog!“ jedoch noch am Anfang der steinigen Suche nach Antworten steht.
Bund-Länder-Kooperation im Programm Polizei 2020
Unter dieser Überschrift setzte Gerald Eder die Vorstellung des erreichten Status fort. Eder war die treibende Kraft beim Bayerischen Landeskriminalamt für die Entwicklung der bayerischen Variante – Easy- des Fallbearbeitungssystems von Rola. Und Eder ist heute der ‚Koordinator der Bund-Länder-Zusammenarbeit des Programms Polizei 2020‘.
Nicht überraschend für die Gepflogenheiten in der deutschen Polizei kam die Kurzbeschreibung der Projektorganisation: Es ging da um Leiter- und sonstige -tagungen, um diverse Arbeitsgruppen und Kernteams etc. etc. Was bestätigt, dass die Zugleichaufgaben für die dazu aus ihren Behörden abgeordneten Mitarbeiter auch bei Polizei 2020 sicher nicht weniger werden und die Reisetage und -kosten auf dem gewohnt hohem Niveau bleiben.
Einführung und Weiterentwicklung des eFBS
eFBS – dieses Akronym steht für das einheitliche Fallbearbeitungssystem. Dabei handelt es sich nach aktuellem Stand um die beim BKA(operativ) und der Bundespolizei eingesetzte Variante B-Case des Fallbearbeitungssystems der Firma Rola. Dies wurde in den vergangenen Jahren harmonisiert, sodass zumindest die beiden Bundes-Polizeibehörden mit dem gleichen System arbeiten können. Und dieses harmonisierte B-Case bildet nun die Anfangsausstattung für das künftige eFBS.
Phasen der Weiterentwicklung
In drei Phasen – Mitte 2020, Ende 2020 und „ab 2021“ – soll das eFBS weiter entwickelt werden und damit „die Überführung monolithischer Verfahren in die IT-Rahmenarchitektur des Programms“ (Polizei 2020) ermöglichen. Damit ist gemeint (, jedenfalls so, wie ich das verstanden habe), dass die Funktionalitäten der drei großen Anwendungsbereiche – Vorgangsbearbeitung, Fallbearbeitung und INPOL-Teilnehmersystem – durch „Microservices“ abgelöst werden sollen, die auf der „Polizei Service Plattform“ bereitgestellt werden.
Keine Eile bei den Rola-Ländern
Bekanntlich arbeiten ja rund zwei Drittel der Polizeibehörden der Länder – mehr oder weniger ausgeprägt – ebenfalls mit ihrer landesspezifisch angepassten Variante des Rola-Fallbearbeitungssystems RSCase. Insofern wäre interessant gewesen zu erfahren, wie man sich im Projektteam die Adaption dieser Landesfallbearbeitungssysteme auf das eFBS vorstellt. Und was man in den Innenministerien der betroffenen Länder darüber denkt.
Der Eindruck drängte sich auf, dass hier noch erheblicher Abstimmungsbedarf mit den betroffenen Ländern besteht. Jeweils zwei Rola-Länder erwägen wohl Mitte 2020 (Berlin, SH) bzw. Ende 2020 (Bremen, MeVo) den Wechsel, sieben weitere (Saarland/RLP, Sachsen, Sachsen-Anhalt, NRW, BY und NS), sowie Thüringen stehen dafür „ab 2021“ an. Alle miteinander offensichtlich unter der Voraussetzung, dass die Weiterentwicklung des eFBS so vonstatten geht, wie aktuell geplant. Hier ist anscheinend das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Aus der Not geboren: Einführung von eFBS bei den CRIME-Ländern
Als Erfolg wurde dargestellt, dass das eFBS – neben Bundespolizei und BKA, die ja nichts wesentliches ändern müssen – schon 2019 mit vier Teilnehmerländern starten wird. Alle vier Länder der CRIME-Kooperation werden nämlich umgerüstet auf das eFBS. Das sind Hamburg, Hessen, Baden-Württemberg und Brandenburg.
Das ist allerdings, wie Insider wissen, nicht unbedingt ein Marketing-Erfolg für das eFBS. Sondern vielmehr Ausfluss des seit Jahren absehbaren, aber unvermeidlichen Scheiterns von CRIME. Noch in den letzten Jahren, als sich immer mehr Wolken über CRIME zusammenballten hinsichtlich seiner technischen Leistungsfähigkeit und seiner Sicherheit, wurden noch mehrere Millionen an Fördermitteln aus dem Fonds für Innere Sicherheit in dieses Projekt gepumpt in der Hoffnung, das System fit machen zu können für den PIAV. Mit der bevorstehenden Einführung der PIAV-Ausbaustufe III war offensichtlich das Ende der Fahnenstange erreicht und brauchte man händeringend eine Alternative zu CRIME, die möglichst günstig zu haben ist und deren Einführung in der Politik und Öffentlichkeit möglichst wenig Staub aufwirbelt. Insofern kam also das eFBS gerade recht als Retter in der Not. Diese Notsituation kam aus der Sicht des BMI und BKA wie gerufen, um zeitnah erste Pilotanwender des eFBS präsentieren zu können. Eine Win-Win-Situation also für beide Seiten!
Mehrwert durch digitale Plattformen
Buchstäblich in der Luft hängengeblieben war dieses Thema und zwar ganz praktisch deshalb, weil der vorgesehene Referent länger im Flugzeug in der Luft bleiben musste, als mit dem Zeitplan vereinbar war. Die Folien dazu liegen mir zwar vor, sind aber so voll gepackt, dass eine Interpretation ohne die Erläuterungen des Referenten nicht ratsam ist. Warten wir also auf den Polizeikongress im nächsten Jahr …
Rechtliche Rahmenbedingungen erfordern technische Änderungen für den polizeilichen Informationsverbund
Diese, längst nicht von allen geteilte Behauptung, stellte Dr. Stefan Jordan, der Leiter des Stabsbereichs 1 des Programms Polizei 2020, seinen Ausführungen voran. Was dann folgte war einerseits sehr wichtig und andererseits sehr schwer verdauliche Kost.
Sehr wichtig deshalb, weil inzwischen auch bei Polizei 2020 angekommen ist, dass Daten zu kennzeichnen sind. Schwer verdaulich, weil dieses Thema – das sage ich aus eigener Erfahrung – Polizeipraktiker, wie sie das Gros der Zuhörer bei dieser Veranstaltung bildeten, schon in den letzten zwanzig Jahren nur sehr mäßig interessiert hat. Und – Ja! – es gab auch bisher schon Kennzeichnungspflichten für bestimmte Daten in polizeilichen Informationssystemen, die allerdings geflissentlich übergangen bzw. mit Schmalspurlösungen zum Schein erfüllt wurden.
Im Vortrag von Dr. Jordan war die HyDaNe, trotz des staubtrockenen Themas, gut aufbereitet und präsentiert. Falls Sie allerdings zu denjenigen gehören, die mit dieser Hydra noch nichts anfangen können UND daran interessiert sind, dies zu ändern: Zu diesem Thema, das eines der wichtigsten für die nächsten Jahre in der Entwicklung der polizeilichen IT sein wird, gibt es mehr zu sagen, als diesem Überblicksartikel gut tut.
Und wieder mal das gleiche Spiel: Auch mit dem Kernsystem muss Polizei 2020 vollkommen neu aufsetzen
Dramatisch genau so komponiert, wie auch im Vortrag von Dr. Jordan, will auch ich Ihnen den HAMMER nicht vorenthalten, den er sich bis ganz zum Schluss aufgespart hatte:
Alle diese rechtlichen Rahmenbedingungen seien dermaßen komplex, dass man AUCH MIT DEM KERNSYSTEM, das eigentlich aus PIAV übernommen werden sollte [= PIAV Operativ Zentral], VOLLKOMMEN NEU AUFSETZEN MÜSSE.
Tusch! Vorhang! Türen auf! – Luft für alle!
Mehr zu Polizei 2020, seiner Entstehungsgeschichte und den Hintergründen
Das Polizei 2020-Dossier
Bildnachweis
Die im obigen Artikel gezeigten Bilder stammen aus dem Foliensatz ‚Das Zukunftsprogramm für die Deutsche Polizei Polizei 2020, verwendet für das Fachforum am 19.02.2019 beim Europäischen Polizeikongress, welches mir das Bundeskriminalamt nach der Veranstaltung freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Danke dafür!
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