„Riesenprobleme“ habe es gegeben mit Kreuztreffern im NRW-Polizeisystem ViVa. Das berichtete ein Zeuge gestern im parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Heureka! Die Software ist schuld.
Doch ist diese Erklärung wirklich haltbar?! Ich zweifle nicht an den irreführenden Ergebnissen, die der Kreuztreffer-Algorithmus in ViVA produziert(e). Dass dies allerdings die Ursache ist für die unrechtmäßige Inhaftierung von Amad A, ist für mich jedoch nicht schlüssig, und zwar aus mehreren triftigen Gründen: Warum soll der Kreuztreffer ausgerechnet und nur bei der Regierungsangestellten aufgetreten sein, aber nicht bei mehr als hundert Abfragen nach dem Amad A. durch Polizeivollzugsbeamte am gleichen Vormittag?! | Lesedauer: Ca. 12 Minuten
Ein inzwischen pensionierter Kriminalbeamter, ehemaliger Dienststellenleiter der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein, hat am 16.06.2020 vor dem Untersuchungsausschuss III im nordrhein-westfälischen Landtag ausgesagt. Der müht sich seit eineinhalb Jahren damit ab, Licht ins Dunkel zu bringen, wie es zur Inhaftierung des hellhäutigen Syrers Amad A. auf der Grundlage von Haftbefehlen kommen konnte, die namentlich auf den schwarzhäutigen Malier Amedy G. ausgestellt waren. Drei Monate später verstarb der Syrer nach einem Brand in seiner Zelle. Der Kommissar berichtete über „massive Probleme“ von ViVa. Das war zum Zeitpunkt der Inhaftierung des Syrers das INPOL-Land-System für Nordrhein-Westfalen als Nachfolger von POLAS.
„Besonders der Umgang mit Alias-Personalien und die Zusammenführung von Personen-Datensätzen sei problematisch gewesen und schließlich streng verboten worden. Es seien vom System immer wieder Verknüpfungen angezeigt worden, bei denen es völlig abwegig gewesen sei, eine Identität anzunehmen…“
Heureka: Ein politisch unbedenklicher Schuldiger ist gefunden: Die Software war’s!
Da war es also endlich, das willkommene Solo am Beginn der parlamentarischen Sommerpause: Willkommen den politischen Interessen, die für die CDU-Fraktion nach der wiederholten Erklärung ihres Sprechers im Untersuchungsausschuss so wichtig sind. Heureka! Endlich war/ist ein Schuldiger gefunden, dem man diesen ganzen Schlamassel in die Schuhe schieben kann, ohne dass es politischen Schaden anrichtet.
Es fehlt am kausalen Zusammenhang zwischen Softwarefehlern und dem Tod von Amad A.
Schuld ist nämlich nach der jüngsten Lesart die fehlerhafte Polizeisoftware. Der Tod von Amad A., schreibt die WAZ, sei „wohl“ die Folge von fehlerhafter Polizeisoftware gewesen“. Eine Behauptung auf deren LOGIK später noch einzugehen sein wird. Der Kölner Stadtanzeiger war gestern Abend etwas zurückhaltender. Berichtete um halb sechs Uhr von den „Riesenproblemen“ mit zentraler Polizei-Software und legt eine halbe Stunde später nach mit „Polizei-Software … in der Kritik“.
Jedoch, geschätzte Kollegen von der Tagespresse, eine Software, selbst wenn sie nur so strotzt von Fehlern, bringt niemanden hinter Gitter. Eine Software führt auch nicht von sich aus Datensätze zusammen. Sie stellt auch nicht Behauptungen auf, um sich von anderen Behörden Haftbefehle schicken zu lassen. Dass der Tod des jungen Syrers eine Folge von „Fehler in der Polizeisoftware“ gewesen sei, ist denn doch eine zu billige Ausrede, im Übrigen unlogisch, wenn auch sicher hochwillkommen von der Regierungspartei und ihrem politisch hochmotivierten Sprecher im Untersuchungsausschuss.
Kreuztreffer-Algorithmus in ViVa – der einzige, hier in Frage kommende Fehler
Die in Frage stehende Software – ViVa, damals in der Ausbaustufe 1 das INPOL-Land-System von Nordrhein-Westfalen – verwendete ein Kreuztreffer-Verfahren zum Aufspüren von Personennamen, die Ähnlichkeit zu einer in der Suche verwendeten Personalie aufweisen.
Die Fehlermeldung zum Kreuztreffer-Fehler /ViVa-Abfrageproblem stammt vom Februar 2018
Die Arbeitsweise dieses Kreuztreffer-Verfahrens ist in einem mir vorliegenden Dokument aus dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen beschrieben. Es wurde im Februar 2018 erstellt (also lange vor den Ereignissen mit dem Syrer Amad A., die hier eine Rolle spielen) als Antwort auf die Fehlermeldung eines Anwender aus der Kreispolizeibehörde Kleve. Das war die gleiche Kreispolizeibehörde, in der später der Syrer verhaftet wurde. Das sollte man wissen, es könnte relevant werden … Jedenfalls erklärte das Landeskriminalamt diesem Anwender, dass die ViVa-Kreuztrefferei folgendermaßen funktioniert. Wir machen das im Folgenden an einem Beispiel deutlich:
Arbeitsweise der ViVa-Kreuztrefferei am Beispiel von ‚Thomas Müller‘
Ausgangspunkt unserer (hier beispielhaften) Suche in der ViVa-Datenbank sei eine Person mit dem Namen ‚Müller, Thomas, geb. 19890913‘. ViVa zeigt den Datensatz/die Datensätze von allen Personen an, in deren Führungspersonalie diese Namensbestandteile vorkommen. Aber ViVa tut noch mehr. Als Ergebnis seiner Kreuztrefferei zeigt ViVa auch noch die Personen-Datensätze, in denen Alias-Namen vorkommen und zwar solche mit dem (Familiennamen oder Geburtsnamen Müller) UND mit einem Geburtsdatum irgendwann im Jahr 1989. Jedenfalls habe ich so die Erläuterung zur Funktionsweise der ViVa-Kreuztreffer Funktionsweise aus einem mir vorliegenden, internen Dokument aus dem Landeskriminalamt NRW verstanden.
Früher Hinweis des Anwenders auf mögliche „unrechtmäßige polizeiliche Maßnahmen“ in Folge des Fehlers
Der Anwender hatte in seiner Fehlermeldung angemerkt, dass dieses Softwareverhalten „im Einzelfall zu unrechtmäßigen polizeilichen Maßnahmen“ führen kann. Seit dem 15.2.2018 lag diese Fehlermeldung im LKA NRW und beim Landesamt für Zentrale polizeiliche Dienste (LZPD) vor. Dort ist auch die Projektleitung für die Entwicklung und Einführung ViVa angesiedelt. Dort findet – gemeinsam mit der Herstellerfirma Deutsche Telekom Healthcare and Security Solutions GmbH (DTHS) – die Pflege und Weiterentwicklung von ViVa statt. Wofür dieser Auftragnehmer zuletzt im Dezember 2019 einen Rahmenvertrag über sechs Jahre Laufzeit mit einem Volumen von 27,7 Mio Euro (netto) erhalten hat.
Sattsam bekannter Software-Fehler
Auch auf der Ebene der Anwender wusste man über diesen massiven Fehler. Er war beim Verfasser der Fehlermeldung aus der Kreispolizeibehörde Kleve bekannt, der oben genannte Zeuge im Untersuchungsausschuss sagte am 16.06.2020 aus, dass das Problem „massiv“ gewesen sei und eine Zusammenführung von Datensätzen zu Personen (also mach aus zwei Personen eine in der Polizei-Datenbank) „problematisch gewesen und schließlich streng verboten worden“ sei.
Aus meiner zwanzigjährigen Erfahrung mit vergleichbaren polizeilichen Informationssystemen in einem Bundesland kann ich sagen, dass „peinliche“ Softwarefehler auf Anwender immer eine kommunikative Anziehungskraft ausüben. Sprich: Man redet gerne drüber, einer erzählt es dem anderen, es findet sicher seinen Weg in die Whatsapp-Kommunikation und manch Interessierter probiert aus, was man mit diesem Fehlverhalten denn noch so alles anstellen kann …
Ein „massiver“ Fehler, der erst sehr spät behoben wurde
Soweit mir bekannt ist, wurde dieser Fehler jedoch erst beseitigt, nachdem der Syrer Amad A. am 6. Juli 2018 in Haft genommen worden war, also rund ein halbes Jahr nach der ersten Fehlermeldung.
Ungeklärt ist, warum ein Softwarefehler, der so massive Auswirkungen haben kann („kann im Einzelfall zu unrechtmäßigen polizeilichen Maßnahmen führen“) nicht mit höchster Priorität beseitigt oder warum nicht zumindest die fehlerhafte Funktion stillgelegt wird. Man kann nicht einfach NICHTS tun zur Behebung eines massiven Bugs und sich hinterher achselzuckend darauf berufen, dass Software nun mal Fehler hat …
Qualifizierter Abgleich von Personennamen – vulgo: Kreuztreffer – eine echte Herausforderung
Wenn der Kreuztreffer-Algorithmus in Viva tatsächlich so funktioniert haben sollte, wie oben in dem erwähnten internen LKA-Dokument beschrieben, so wäre er zu simpel, nicht zielführend, fachlich unzureichend und in den Ergebnissen fahrlässig.
Designfehler, vom Auftragnehmer und Auftraggeber ignoriert
Wer solche Funktionen in einem Softwaresystem in Auftrag gibt, sollte um die fachlichen Herausforderungen Bescheid wissen. Wer solche Funktionen dermaßen primitiv und banal implementiert, wird fachlichen und technischen Mindesterfordernissen nicht gerecht. Denn – siehe Text der Fehlermeldung – hier hatte schon ein Endanwender erkannt, dass es zu aufgrund dieses Fehlers „zu unrechtmäßigen polizeilichen Maßnahmen“ gegen Personen kommen kann. Wozu eine Inhaftierung zweifelsohne gehört …
Und die Frage nach der politischen Verantwortlichkeit
Für ein solches fachliches und technisches Versagen gibt es, weder auf Seiten des Auftraggebers, noch auf Seiten des Auftragnehmers, Entschuldigungsgründe, mit denen man achselzuckend sagen kann, dass „Software nun mal Fehler hat“. Nein: Hier lag – was für sich allein schon fachlich angreifbar ist – ein Designfehler einer Softwarefunktion vor (viel zu banal implementiert für die komplexe Anforderung eines Personennamensabgleichs (siehe dazu mehr in [D]) und hier hat sich – über Monate niemand um die Fehlerbeseitigung bzw. Deaktivierung der fehlerhaften Funktion gekümmert; bis es zu spät war für den 26-jährigen Mann aus Syrien. Das wirft auch die Frage nach der politischen Verantwortlichkeit für solches Behördenhandeln auf …
Mindestens sieben gute Gründe, warum der Tod von Amad A. NICHT die Folge eines Softwarefehlers war …
Und dann wäre da ja noch ein ganzes Bündel von Sachverhalten, die im Untersuchungsausschuss zu Tage gefördert wurden und die ganz und gar nicht zum neuen Narrativ passen, dass „der Tod von Amad A. eine Folge von fehlerhafter Polizeisoftware“ gewesen sei.
Um ganz penibel vom tragischen Ende her anzufangen:
- Der Tod von Amad A. war die Folge eines Brandes in seiner Zelle und sehr später Rettung / Hilfeleistung trotz seines und anderer Häftlinge Notrufs. [Nur nebenbei gefragt: Hat eigentlich eine Haftanstalt in NRW in den Zellen keine Rauchmelder …?]
- Amad A. saß vom 6.7. bis zum Brand in seiner Zelle am 17.09.2018 in Haft auf der Grundlage von Haftbefehlen, die namentlich auf eine andere Person, nämlich den Malier Amedy G., ausgestellt waren. Werden Haftbefehle von Justizbeamten nicht gelesen bei der Einlieferung in die Haftanstalt?! Amad A. hatte laut Zeugenaussagen auch deutlich erklärt, er kenne diesen Amedy G. nicht und sei auch nie in Hamburg (Wirkungskreis des G.) gewesen. Das veranlasste niemanden in der Polizei oder Justiz diesem Umstand mal nachzugehen. Und das soll die Folge des Fehlers mit dem Kreuztreffer in ViVa sein??
- Eine Staatsanwältin aus Braunschweig hat drei Wochen nach der Inhaftnahme von Amad A. mit einem an der Inhaftierung beteiligten Polizeibeamten telefoniert. Und notiert, den darauf hingewiesen zu haben, dass der von ihr bearbeitete Haftbefehl den Amedy G. beträfe. Der sei aber „nicht identisch“ mit dem inhaftierten Amad A, was sie im inzwischen vorliegenden Memo auch deutlich unterstrichen hat. Weiter hat sich die Staatsanwältin mit diesem Fall nicht befasst. Sie habe – sinngemäß – anderes zu tun. Und was tat der kontaktierte, im Fall involvierte Polizeibeamte? … Dass er NICHTS unternommen hat, um einen unberechtigt Inhaftierten wieder freizulassen. Auch das war seine persönliche Entscheidung, viele würden sagen: Unerklärliche Fehlentscheidung. Aber sicher nicht „Folge des Kreuztreffer-Softwarefehlers“!
- Am 9.7.2018, einem Montag, Amad A. war seit dem Freitag davor in Haft, wurde im polizeilichen Informationssystem INPOL so einiges eingetragen. Wofür es eigentlich keine Grundlage gab. Ebenso im INPOL-Datensatz des Syrers. Zu beidem habe ich dem Ausschuss ausführliche, von mir vorgenommene Auswertungen der Nachrichtenprotokolle aus dem polizeilichen Informationssystem INPOL vorgelegt. Einzelheiten zu beidem tun in einem öffentlichen Dokument an dieser Stelle nichts zur Sache. Doch sind diese Veränderungen, die im Ergebnis für mehr Übereinstimmung zwischen den INPOL-Datensätzen der beiden Personen sorgten, von Menschen eingetippt wurden und nicht automatisch entstanden in „Folge eines Softwarefehlers“.
- Am 6.7.2018, einem Freitag, wurde der Syrer Amad A. nach einer Beschwerde junger Frauen wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung an einem Baggersee fest- und mitgenommen auf die Polizeiwache Geldern. Die liegt im Dienststellenbereich der KPB Kleve. Beamte dieser Wache forderten noch am Abend per Fax beim LKA Hamburg die Haftbefehle an, die den Malier G. betreffen. Es gibt keinen einzigen mir bekannten, nachvollziehbaren Sachgrund, der den Schluss erlaubt hätte, dass der Syrer und der Malier ein- und dieselbe Person seien. Die Personen hatten unterschiedliche Namen, unterschiedliche Zuwanderungsgeschichte, unterschiedliche „polizeiliche“ Historie und sahen vollkommen unterschiedlich aus.
- Selbst wenn ein Softwarefehler durch den fehlerhaften Kreuztreffer in ViVa fehlerhaft angezeigt haben sollte, dass es den Verdacht der Identität zwischen Amad A. und Amedy G. gibt. Wäre es dann nicht oberste polizeiliche Pflicht gewesen, sich von der tatsächlichen Identität oder eben Nicht-Identität der beiden Personen durch weitere Prüfungen zu versichern. Dies gilt umso mehr, als der Softwarefehler der ViVa-Kreuztreffer-Funktion mit den falsch angezeigten Identitäten bekannt war – ein „massives Problem“ / ein „Riesenproblem“ in der Polizei Nordrhein-Westfalen – und insbesondere auch in der Polizeibehörde Kleve, von wo ja die erste diesbezügliche Fehlermeldung stammte: Und darüber hinaus sagt der Vorgesetzte für die Stelle, die die Kriminalakte von Amad A. führte, dass die Zusammenführung von Datensätzen „streng verboten“ war. Doch darum hat sich von den beteiligten Polizeibeamten keiner gekümmert. Das sind eklatante Versäumnisse polizeilich-hoheitlicher Aufgaben. Aber sicher nicht „Folgen eines Softwarefehlers“.
Am Rande stellt sich allerdings die Frage, was der Untersuchungsausschuss dagegen unternehmen wird, dass ihm diese Sachverhalte bei der 22. Sitzung nach eineinhalb Jahren erst zur Kenntnis gebracht werden. Das ist ein befremdlicher Stil im parlamentarischen Umgang miteinander.
- Am Mittwoch, dem 4.7.2018 war der Syrer nach Schwarzfahren festgehalten worden. Mit einem von mir bis dahin nicht für möglich gehaltenen Zeitaufwand kümmerten sich mehrere Beamte aus mehreren NRW-Polizeidienststellen stundenlang um die Bearbeitung dieser Beförderungserschleichung. Dabei wurde auch eine umfassende erneute erkennungsdienstliche Behandlung angeordnet. Die wurde allerdings in der angeordneten Detailtiefe gar nicht durchgeführt. Und erst fünf Tage später im System INPOL erfasst. Warum? Ging es nur um die Möglichkeit, den INPOL-Datensatz des Syrers zu aktualisieren, wie nach jeder Erfassung einer ED-Behandlung?! Auch das war sicher nicht die „Folge eines Softwarefehlers.“
Offene Frage zum fehlerhaften Kreuztreffer, dem angeblich Schuldigen
Und um jetzt endlich zur angeblichen Ursache von all dem zu kommen: Ebenfalls am Mittwoch, dem 4.7.2018, soll ein Kreuztreffer aufgefallen sein zwischen den beiden. In den 11 Aliasnamen des Maliers Amedy G. gab es einmal den Vornamen Amed und einmal den Geburtsnamen Amed. Auch der Syrer wurde unter der FÜHRUNGSpersonalie Amed Amed in INPOL geführt. Insofern war dieses Namensfragment signifikant. Ansonsten hatten die beiden (wie bei über 400.000 beim BAMF registrierten Asylbewerbern üblich) als Geburtsdatum den 01.01.1992 eingetragen. Das und nur das spiegelt das oben beschriebene Fehlverhalten von ViVa in der Kreuztreffer-Funktion wieder. Doch ist das nicht die kausale Ursache für den Tod von Amad A. Die ist vielmehr bei den vielen unerklärlichen Verhaltensweisen beteiligter Beamter zu suchen. Zu denen nur noch die Frage bleibt: Wieviel Zufall soll denn noch ein Zufall oder entschuldbare Schlamperei sein??
Müssten bei den Namensbestandteilen von Amed Amed/Amad Ahmad nicht viel mehr Kreuztreffer worden sein?
Bisher nicht untersucht, bzw. mir unbekannt ist, wie viele weitere Kreuztreffer eigentlich mit den Namensfragmenten von Amad A. angezeigt wurden. Der Geburtsort, das Geburtsland (Syrien), der Namensbestandteil Amed Amed bzw. Amad Ahmad und das unbestimmt allgemein verwendete Geburtsdatum 01.01.1992 legen die Vermutung nahe, dass es mehr Kreuztreffer zu diesen Namensfragmenten gegen haben kann. Allein die Verwendung dieses allgemeingültigen, hunderttausendfach verwendeten Geburtsdatums in einem Kreuztreffer-Algorithmus halte ich für einen fachlichen Kardinalfehler. Es wäre softwaretechnisch ein Leichtes, DIESES Datum beim Vergleich zu ignorieren. Allein das hätte schon dazu geführt, dass zwischen dem Syrer und dem Malier KEIN Kreuztreffer entstanden wäre.
Warum wurde ausgerechnet der Datensatz des Maliers Amedy G. als DER entscheidende Kreuztreffer angesehen? Hinweise auf sicher anzunehmende, sonstige Ergebnisse der fehlerhaften Kreuzztreffer-Funktion sind mir nicht bekannt. Wie aber sollte die (fehlerhafte) Kreuztreffer-Software sich mit den Namensfragmenten Amed und 1992 ausgerechnet und ausschließlich den (mit offenen Haftbefehlen versehenen) Malier Amedy G. aussuchen können?? Ein weiterer „Zufall„?
Zur angeblichen Zusammenführung der Datensätze durch die Regierungsangestellte in Siegen
Angeblich sei es dann aufgrund dieses Kreuztreffers zwischen dem Malier und dem Syrer zur Zusammenführung der VIVA-Datensätze der beiden gekommen. Und zwar durch eine Regierungsangestellte bei der KPB Siegen-Wittgenstein. Dort wurde die Kriminalakte für den Syrer geführt.
- Soweit mir bekannt, konnte sich diese Frau, als Zeugin im Untersuchungsausschuss befragt, nicht an diesen Vorgang erinnern.
- Bei einer zweiten Befragung sagte eine Kollegin dieser Frau aus der gleichen Dienststelle am 09.06.2020 im Untersuchungsausschuss,
- dass die angebliche Erfasserin der Datensatzzusammenführung weder von ihr noch von ihrer Kollegin eingewiesen oder beauftragt worden sei.
- Auch deren Darstellung, sie habe ein Datenblatt und einen Zettel mit der Bitte bekommen, die Dateien zusammenzuführen, könne nicht stimmen. Dies sei „so nicht üblich“.
- Das Datenblatt, das der Zusammenführung der Personendaten gedient haben soll, konnte die Zeugin ebenfalls nicht als solches identifizieren.“ [KStA, 9.6.2020]
- Der am 16.6. gehörte Vorgesetzte dieser beiden Angestellten ergänzte in seiner Vernehmung, „er habe die ihm unterstellte Sachbearbeiterin nicht angewiesen, Personensätze zusammenzuführen.“
Die angebliche Widerlegung meiner Auswertungen durch das Gutachten von LKA, LZPD und ViVa-Software-Hersteller
Am 19.05.2020 präsentierten Vertreter von LZPD und des ViVa-Softwarehersteller (nach meinem Wissen) ein im Auftrag des Untersuchungsausschusses erstelltes Gutachten. Den genauen Auftrag kenne ich nicht, Gegenstand war offensichtlich ein Handout, das ich als sachverständige Zeugin am 14.1.2020 dem Untersuchungsausschuss vorgelegt hatte. Dieses Handout war, anders als in zahlreichen Medien behauptet, KEIN Gutachten. Ich hatte es kurzfristig 14mal ausgedruckt und mitgenommen, weil die Technik im NRW-Landtag nicht zuverlässig sicherstellen konnte, ob ich eine mitgebrachte Präsentation mit visualisierten Ergebnissen meiner Auswertung „an die Wand“ werfen kann. Namen von Dienststellen und Nutzer-IDs, die einen Rückschluss auf Polizeibeamte ermöglicht hätten, habe ich auf eigene Initiative in diesem Dokument anonymisiert, nachdem eine frühzeitige schriftliche Anfrage von mir über den Umgang mit personenbezogenen Daten vom Ausschussvorsitzen nicht beantwortet worden war. Mein Papier und die zugrunde liegenden Auswertungen waren auch von niemandem beauftragt , geschweige denn bezahlt worden. Der Gegenstand meiner Auswertungen beschäftigte sich mit Nachrichtenprotokollen, die das Bundeskriminalamt dem LKA NRW über Aktivitäten aus NRW im Zeitraum vor der Verhaftung des Syrers (Juli 2018) im polizeilichen Informationssystem INPOL zur Verfügung gestellt hatte. Sonstige Untersuchungsmaterialien, die mir vorlagen, enthielten nur sehr wenige Protokolldaten aus ViVa. Eigentlich ergab sich aus letzteren nur, dass am Tag der angeblichen Datenzusammenführung keine inhaltlichen Daten zum Syrer Amad A., sondern nur Verwaltungsdaten in dessen ViVa-Datensatz erfasst/verändert worden waren. Das habe ich bei der Sitzung am 14.1.2020 auch ausgesagt.
Dieses Gutachten der technischen Abteilung für die Projektleitung ViVa und des Software-Herstellers, das sich mit Fragmenten meiner Auswertungsergebnisse beschäftigt, ist mir nicht bekannt. Ich las lediglich den Triumph des CDU-Obmanns danach, besonders breitgetreten in focus online, dass dieses Gutachten nun meine Auswertung „scheibchenweise zerpflückt“ und insgesamt widerlegt habe. Der kleine, aber entscheidende Sachverhalt, dass sich meine Auswertungen auf INPOL bezogen hatten, die der behördlichen Gutachten jedoch auf ViVa – wozu mir keine Unterlagen vorlagen – fiel großzügig unter den Tisch.
Dort liegen meine Auswertungsergebnisse noch heute und warten auf die Antworten zu den Fragen, wer insbesondere aus Polizeidienststellen des Landes NRW eigentlich was in INPOL, insbesondere am 9.7.2018 gemacht hat, um dafür zu sorgen, dass auch dort die Datensätze von Amad A. und Amedy G. manuell zusammengeführt wurden.
Mein Brief an den Ausschussvorsitzenden
Über dieses befremdliche Verhaltens gegenüber einem sachverständigen Zeugen in einem Untersuchungsausschuss habe ich mich in einem Brief vom 8.6.2020 beim Ausschussvorsitzenden beschwert. Eine Antwort darauf liegt mir bisher nicht vor. Allerdings wurde mein Brief – nicht von mir! – an dpa weitergegeben und daraus in deren Berichterstattung freizügig zitiert.
Wo ist der Zeugenbeweis für die behauptete Zusammenführung von Datensätzen?
Bis heute ist also die Kardinalerklärung aus dem Innenministerium nicht durch Zeugen bewiesen: Es gibt keinen Personenbeweis für diese Zusammenführung. Es gibt, soweit mir bekannt ist, auch keine Untersuchung, wer sonst noch in Frage kommen könnte für diese Datensatzzusammenführung: Denn über die angebliche (und nicht schuldhafte) „Tathandlung“ der subalternen Regierungsangestellten, gibt es inzwischen widersprüchliche Aussagen.
Faktum ist allerdings: Es war NICHT die Software selbst in einem Automatismus, auch wenn diese fehlerhaft eine vage Übereinstimmung zwischen den Personalien des Syrers und des Maliers angezeigt haben sollte.
Bei all diesen – nicht einmal vollständig – aufgelisteten Aktivitäten oder Nicht-Aktivitäten von Polizeibediensteten lässt sich in keinem einzigen Fall ein URSÄCHLICHER ZUSAMMENHANG herstellen zwischen einer „fehlerhaften Polizeisoftware“, der sich daraus ergebenden Inhaftierung des Syrers auf der Grundlage von Haftbefehlen auf den Namen Amedy G. und seinem bis zu tödlichen Verletzungen führenden Aufenthalt in der JVA Kleve. Medien, die nach wie vor diesen – politisch, seitens der Regierungsfraktion sicher willkommenen – Narrativ bedienen und durch ständige Wiederholung verfestigen, sind entweder nicht ausreichend im Bilde oder betreiben bewusst Meinungsmache zum Vorteil der CDU in Nordrhein-Westfalen. Nach journalistischen Grundregeln gebotene Rückfragen bei mir von den zahlreichen Verfassern von Zeitungsartikeln über die angebliche Widerlegung meiner Auswertungen oder meinen an dpa durchgestochenen Brief hat es in keinem einzigen Fall gegeben.
Einer zutreffenden Antwort auf die aktuelle Frage nach strukturellem Rassismus in der Polizei ist damit nicht gedient, obgleich doch gerade die Polizei aktuell so stark daran interessiert ist, diese „Fehlannahme“ aus der Welt zu schaffen. Mehr Transparenz, Offenheit und Ehrlichkeit durch Justiz- und Polizeibehörden anstelle des bisherigen Mauerns, Tricksens und Zurückhaltens und medialer Schläge unter die Gürtellinie, um meine Auswertungsergebnisse zu diskreditieren, könnten dieses Ziel ein großes Stück voranbringen.
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