Nur die Spitze des Eisbergs?

In der Polizei Nordrhein-Westfalen ist eine rechtsextreme Chatgruppe aufgeflogen. 29 Polizeibeamte sind mit straf- bzw disziplinarrechtlichen Maßnahmen konfrontiert. Innenminister Reul kündigte mit markigen Worten Gegenmaßnahmen an. Im „PUA-Kleve“-Untersuchungsausschuss zur unrechtmäßigen Inhaftierung des Syrers Amed Amed, könnte die CDU-Mehrheit demonstrieren, dass diese Ankündigung der neue politische Wille in NRW sind – und endlich für Aufklärung sorgen.
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Razzia der Polizei gegen Rechtsextremisten in den eigenen Reihen

In der Polizei Nordrhein-Westfalen ist am 16.09.2020 ein rechtsextremer Chat aufgeflogen. Das berichteten am 16.09. diverse regionale und überregionale Zeitungen. Interessant ist der Auslöser dieser Aktion. Denn der hatte mit Sorge um rechtsextreme Machenschaften in der Polizei Nordrhein-Westfalen gar nichts zu tun: Vielmehr war der Verdacht aufgekommen, dass ein Polizeibeamter geheimhaltungsbedürftige Informationen an einen Journalisten durchgestochen haben soll. Auf dem Handy dieses verdächtigen Kollegen fanden sich dann Kontakte zu mehreren Whatsapp-Chatgruppen. Und darin mindestens 129 Bilddateien und andere Inhalte: Dabei soll es sich um Abbildungen von Hitler handeln von Hakenkreuzen und Reichskriegsflaggen und fiktive Darstellungen von (andersfarbigen) Zuwanderern, mal in einer KZ-Gaskammer und mal in einer Erschießungsszene. Diese Inhalte wiederum führten zu insgesamt 29 Beamten gegen die jetzt straf- und disziplinarrechtliche Ermittlungen anhängig sind. Ungefähr die Hälfte davon hat aktiv solche Inhalte eingestellt, die andere Hälfte hat nachweislich diese Inhalte zumindest zur Kenntnis genommen.

Überschaubares Risiko von wirklich einschneidenden Konsequenzen

11 von den 29 Polizeivollzugsbeamten sind mit strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert. Gegen alle 29 wurden Disziplinarverfahren eröffnet, davon 14 mit dem Ziel einer Entfernung aus dem Dienst. In der Annahme, dass zu letzterer Gruppe auch die 11 gehören, gegen die strafrechtliche Ermittlungen anhängig sind, bedeutet dies also, dass von den insgesamt 29 derzeit Verdächtigen 15 nicht mehr zu erwarten haben als ein Disziplinarverfahren. Das ist eine Quote von weniger als 50 Prozent für wirklich einschneidende Konsequenzen und insofern nicht wirklich abschreckend für einen Polizeivollzugsbeamten/in, der seinen bzw. die ihren Frust über die Lebens- und Berufssituation vor oder nach Dienstschluss in einer der zahlreichen WhatsApp Gruppen von Gleichgesinnten auskommunizieren kann. Und dabei auf viel Verständnis von Gleichgesinnten stößt.

Erkenntnisse des Innenministers – drei Tage nach der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen

Es hat mehr als nur ein „Geschmäckle“, dass diese Razzia drei Tage NACH der Kommunalwahl in NRW stattfand. Einem politischen Ereignis, das für den Landes“vater“ und Kanzlerkandidatsaspiranten Laschet und seine CDU von erheblicher politischer Bedeutung war. Der eigentliche Auslöser – ein des Geheimnisverrats verdächtigter Polizist und sein Handy – waren bei den Ermittlern in NRW seit Wochen bekannt. Es muss spannend gewesen sein für die Verantwortlichen, diese Razzia in mehreren Polizeidienststellen und Privatwohnungen vorzubereiten unter der Beteiligung von 200 Polizeivollzugsbeamten UND darauf zu hoffen, dass jedermann dicht hält bis nach der Wahl. Das zumindest scheint ja gelungen zu sein. Das gibt insofern auch Hoffnung für Herrn Reul. Auf die Mitarbeiter seiner dem Innenministerium direkt unterstellten Landesoberbehörde, dem Landeskriminalamt, kann er sich anscheinend (noch) verlassen.

Wie gut gesichert sind die Polizeidatenbanken gegen illegale Zugriffe durch rechtsextreme Polizisten?

Von der anderen Landesoberbehörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums, dem Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD), finden sich zwei Beamte unter den jetzt Beschuldigten. Was Fragen aufwirft, wenn man bedenkt, dass diese Behörde auch Entwickler und Projektverantwortlicher ist für wichtigste, landesweite Anwendungen der Polizei, wie z.B. die Vorgangsbearbeitung ViVA und das darin integrierte INPOL-Land. Und als Auftragsverarbeiter die Polizeidatenbanken des Landes betreibt und pflegt. Mit dem Blick nach Hessen kommt da gleich die Frage auf: Wie gut gesichert sind die Informationen in den Datenbanken der Polizei NRW vor illegaler Nutzung oder gar Manipulationen durch rechtsextreme Polizisten?

Nur die Spitze des Eisbergs?

Zahlen über das Ausmaß der aktiv und passiv Beeiligten sind meiner Ansicht nach derzeit irrelevant, weil sie sich in den nächsten Tagen und Wochen noch dramatisch erhöhen werden. Denn, wie gesagt, die derzeitigen Erkenntnisse gehen auf die Auswertung EINES Handys zurück. Die Hoffnung also, dass der Fall an sich sich beschränken wird auf eine zweistellige Anzahl von „Leuten“ in der Polizei, denen man rechtsextreme Haltung nachweisen kann, dürfte sich schnell verflüchtigen. In der Razzia vom 16.9. wurden bei etlichen Verdächtigen weitere Handys beschlagnahmt. Deren Auswertung – rechnen wir sowohl aus technisch-fachlichen, als auch aus politischen Gründen mal besser mit einigen Wochen, bis Ergebnisse vorliegen – wird ein ganzes Netzwerk von weiteren aktiv beitragenden Contentlieferanten und passiven Konsumenten aufzeigen.

Die bisherigen „Einzelfälle“ in anderen Polizeibehörden

Was sich nicht nur auf die Polizei in Nordrhein-Westfalen beschränken, sondern aufzeigen wird, dass es – Facebook und seinem Spin-Off WhatsApp sei Dank – inzwischen ein immens großes und dichtes Geflecht von Kontakten via WhatsApp-Gruppen innerhalb der rund 300.000 Polizeivollzugsbeamten von Bund und den 16 Bundesländern gibt. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob die Bestrebungen der Innenminister um mehr technische Überwachung von Messengerdiensten, wozu WhatsApp ja gehört, nicht vor allem den Grund haben, der eigenen Polizei besser aufs Maul schauen zu können.

Wann wird endlich Schluss sein mit der Mär von den „Einzelfällen“?

Man wird – getreu der bisherigen Praxis – weiter bestrebt sein, das tatsächliche Ausmaß nicht öffentlich bekannt werden zu lassen. Nicht zuletzt deshalb, weil auch die Landeschefs bzw. Innenminister der übrigen 15 Bundesländer nicht begeistert sein werden, von Nordrhein-Westfalen mit dieser Erkenntnis öffentlich bloßgestellt zu werden. Weil sich damit ja zeigen würde, dass es nicht nur in Nordrhein-Westfalen oder in Hessen oder in Brandenburg, Sachsen oder Sachsen-Anhalt – wo bisher immer nur „Einzelfälle“ bekannt wurden – ein massives und strukturelles Problem mit nazistischen bzw. rechtsextremen, antisemitischen bzw. rassistisch eingestellten Leuten in der Uniform von Polizei­vollzugs­beamten gibt.

Markige Worte von Innenminister Reul

Der Auftritt des NRW-Innenministers Reul am 16.9. abends in der Aktuellen Stunde des WDR-Fernsehens, war, obschon politisch erwartbar, doch an der Grenze zur Fehleinschätzung seiner individuellen Einflussmöglichkeiten:

  • Auf die Frage nach seinem heutigen Gespräch mit den Leitern der mehr als vierzig Polizeibehörden in Nordrhein-Westfalen:
    „Ich habe denen gesagt dass ich nicht bereit bin zu akzeptieren, dass es in unserer Polizei Menschen gibt, die rechtsextreme Meinung haben, die Flüchtlingshetze betreiben, und dass ich erwarte, dass sie dafür sorgen, dass solche Menschen aus der Polizei entfernt werden.“
  • Zur Frage nach dem Korpsgeist in der Polizei, der die Aufdeckung von Fehlern verhindert:
    „Wir werden ja sehen, ob da was dran ist oder nichts dran ist. Wir werden auf jeden Fall in dieser Behörde [nicht ganz klar, welche eigentlich gemeint ist] eine zentrale Inspektion von uns aus durchführen, einfach um sicher zu gehen, ob da (nicht) irgendetwas unter den Teppich gekehrt worden ist und natürlich habe ich heute den Behördenchefs gesagt, dass sie darauf achten müssen, denn manches wird eben auch nicht gesagt, aus unterschiedlichsten Gründen ..
    Das ist ab heute anders, ab heute weiß jeder in der nordrhein-westfälischen Polizei, dass ich das nicht dulde und nicht will und wer jetzt noch weiter macht, muss damit rechnen, dass er glasklar zur Verantwortung gezogen wird.“

Worte allein werden Haltungen nicht verändern

Mit solchen markigen Worten allein, wird sich die innere Haltung von tausenden von Polizeivollzugsbeamten nicht verändern lassen. Diese Haltung ist, wie zahlreiche Studien bestätigen, bei allen geprägt von einem Korpsgeist, der verhindert, dass Fehlverhalten von Kollegen bemerkt und intern bzw. extern bezeugt wird. Vielen muss darüberhinaus eine Weltanschauung unterstellt werden, die Menschen in Klassen einteilt und Polizisten als besondere und besonders schützenswerte Klasse ansieht, die per se keine Fehler macht: Ein Weltbild, das von Polizeigewerkschaften – Stichwort: „Wir brauchen keine Polizeibeauftragten“ – oder Innenministern – Stichwort Seehofer „Wir brauchen keine Rassismusstudie“ – noch bestärkt wird. Diese Probleme betreffen nicht nur die Polizei in Nordrhein-Westfalen, sondern in allen Bundesländern, sowie BKA und Bundespolizei.

Wir, als Gesellschaft, lassen die Entstehung einer eigenen Klasse von Beamten zu, die

  • über umfassende und kaum kontrollierte und kontrollierbare Befugnisse verfügt,
  • die im Falle der Gegenwehr von Menschen gegen polizeiliche Übergriffe in aller Regel antwortet mit Gegenanzeigen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt – und dabei meist auch obsiegt,
  • und die als Gruppe über Druckmittel gegenüber dem Einzelnen verfügt, weil Abweichungen von den Gruppenregeln mit sozialen, beruflichen, finanziellen und psychischen Konsequenzen einhergehen.

Mit einem Beitrag zur Aufklärung im Fall des Syrers Amed Amed könnte Innenminister Reul die Ernsthaftigkeit seiner Absichten unter Beweis stellen

Sollte es Herr Reul ernst meinen, mit seinen Absichten vom Ausmisten „seiner“ Polizei von Rechtsextremismus, Demokratiefeindlichkeit und Rassismus, gäbe es ein gutes Betätigungsfeld: Endlich für Transparenz in den Ermittlungen und der Aufklärung der unrechtmäßigen Verhaftung des Syrers Amed Amed (Amad Ahmad) zu sorgen. Der von mehreren Polizeivollzugsbeamten in Nordrhein-Westfalen am 6.7.2018 in Haft genommen wurde. Weil ihm – unter noch immer ungeklärten Umständen – angehängt worden war, dass er identisch sei mit einem völlig anderen Menschen, der anders aussah und mit dem der Syrer nie zu tun gehabt hatte. Die Haftbefehle für den schwarzhäutigen Malier Amedy G., die die Polizeivollzugsbeamten bei der Einlieferung des Syrers in die Justizvollzugsanstalt vorwiesen, reichten auch für die Justizbeamten dort aus, um den hellhäutigen Syrer in die JVA aufzunehmen und dort zu belassen. Ohne weitere Prüfung über Monate. Heute vor zwei Jahren, am 17.9.2018, kam es zu einem Brand in dessen Zelle. Zwölf Tage später verstarb der Amad Ahmad, kurz nach seinem 26. Geburtstag, an den Folgen dieses Brandes.

Ein Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag soll in diesem Fall für Aufklärung sorgen. Zeugen bzw. Sachverständige, die nicht die politisch von der Regierungsfraktion CDU gewünschte Meinung über die Umstände der Freiheitsberaubung des Syrers Amad A durch Polizei- und Justizbeamte des Landes NRW teilen – und zu denen auch ich als dort angehörte sachverständige Zeugin gehörte – wurden von der Regierungsmehrheit im Ausschuss und von entsprechend „geneigten“ Medien, wie z.B. Focus, diskreditiert und als „Verschwörungstheoretiker“ madig gemacht. @Herr Reul: Auch hier könnten Sie ansetzen mit Ihren Ankündigungen, aus Vergangenem zu lernen und etwas besser zu machen …

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[A]   Heureka! Die Software ist schuld! Probleme mit Kreuztreffern im NRW-Polizeisystem ViVA, 17.06.2020
https://police-it.net/probleme-mit-kreuztreffern-im-nrw-polizeisystem-viva

[B]   Anmerkungen zur Zusammenführung von Datensätzen in polizeilichen Informationssystemen: Personen und Identitäten – in Datenbanken der Polizei und in der Wirklichkeit, 28.01.2020
https://police-it.net/personen-und-identitaeten-in-datenbanken-der-polizei-und-in-der-wirklichkeit

[C]   NRW-Innenminister Reul beantwortet Fragen im Landtag zur Namens-Verfälschung im Falle des Syrers A. A.: Wenn der Minister berichtet …, 11.04.2019
https://police-it.net/wenn-der-minister-berichtet

[D]   Wie Ergebnisse technischer Auswertungen zum Fall des Syrers Amad Ahmad (A.A.) / JVA Kleve: Wie Manipulationen in INPOL den Syrer A.A. hinter Gitter brachten …, 04.04.2019
https://police-it.net/wie-manipulationen-in-inpol-den-syrer-a-a-hinter-gitter-brachten

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3 Gedanken zu „Nur die Spitze des Eisbergs?“

  1. Einem Großteil der deutschen Erwachsenen ist zuzutrauen, dass sie differenzieren können. Und nicht alle Polizisten pauschal unter Verdacht stellen. Bei ausschließlich polizei-internen Ermittlungen besteht die Möglichkeit des „Unter den Teppich Kehrens“. Zumal es, wie das Auftreten von Abgeordneten der CDU im Landtagsausschuss demonstriert hat, bei der notwendigen Aufklärug im Fall Amed Amed aus deren Sicht erklärtermaßen um „politische“ Fragen geht. Und „politisch“ ist für Herrn Reul dieser weitere Skandal in der Polizei des Landes sicher nicht wünschenswert. Insofern halte ich eine Unterrichtung und Beteiligung der Öffentlichkeit bei polizeilichem Fehlverhalten in diesem Ausmaß im aktuellen, neuen Fall für mehr als nur geboten.

  2. Als professioneller Motivationstrainer ist das Verhalten des Herrn Reul, an die Öffentlichkeit zu gehen mit diesen Informationen, ein Skandal! Das diskreditiert pauschal die gesamte Polizei und riecht auch nach Propaganda Strategie der Regierung. Sowas muss intern abgearbeitet werden, damit die Arbeit anständiger Polizisten nicht beeinträchtigt wird, jetzt ist da beträchtlicher Imageschaden entstanden und Autoritätsverlust, für die Arbeit der Polizei!
    Hans Grunwald
    Managementtrainer http://www.hans-grunwald.de

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