Fall Amad A.: ViVA machte aus ZWEI Menschen mit unterschiedlichen Fingerabdrucksätzen EINEN

Wenn erkennungsdienstlich von der Polizei behandelte Personen unterschiedliche Fingerabdrücke haben, darf es nicht zu einer Datensatzzusammenführung kommen. Weil dann vom Bundeskriminalamt nach einer daktylo­skopischen Auswertung ihrer Finger-/Handflächenabdrucksätze bestätigt ist, dass diese Personen NICHT identisch sind. Amad A. und der datenmäßig mit ihm „zusammengeführte“ Amedy G. hatten definitiv unterschiedliche Abdrucksätze, d.h. unterschiedliche D-Nummern. Ein Vergleich dieser D-Nummern durch Software ist leicht möglich. Eine fachlich qualifizierte, mit den INPOL-Regeln konforme Software hätte den Unterschied erkennen müssen.
Lesedauer: Ca. 10 Minuten

Dieses Know-How über erkennungsdienstliche Behandlungen und Fingerabdrücke erleichtert das Verständnis …

AFIS – Die Datenbank der Fingerabdruck-Sätze beim Bundeskriminalamt

Bei jeder erkennungsdienstlichen Behandlung (ED-Behandlung) durch die Polizei müssen (sic!) Fingerabdrücke genommen werden. Diese werden digitalisiert, ergänzt um weitere Verwaltungsdaten und Angaben zur betroffenen Person und dann aus dem INPOL-Teilnehmersystem (z.B. ViVA in Nordrhein-Westfalen) automatisch übermittelt an das Bundeskriminalamt.

Mitarbeiter in einem Fachbereich für Daktyloskopie im Kriminaltechnischen Institut des BKA vergleichen jeden neu angelieferten Finger-/Handflächenabdrucksatz mit den Millionen solcher Sätze, die dort im so genannten AFIS-System (AFIS = automated fingerprint identification system) schon vorliegen.

Die D-Nummer – in deutschen Polizeidatenbanken eine extrem wichtige „Personenkennzahl“

Wenn dabei mit KEINEM der schon vorliegenden Abdrucksätze eine Übereinstimmung festgestellt wird, muss es sich um einen NEUEN Abdrucksatz handeln. Von einer Person, deren Fingerabdrücke bisher im AFIS-System noch nicht bekannt sind. In diesem Fall erhält dieser Abdrucksatz eine neue, eindeutige Nummer, die so genannte D-Nummer und wird unter dieser ID in die AFIS-Datenbank integriert.

Die D-Nummer wird auch von AFIS an INPOL zurückgemeldet und dort als Teil der Personenidentifizierung im Personen-Datensatz der Person gespeichert. Ferner wird die D-Nummer auch an das INPOL-Teilnehmersystem zurückgemeldet, von der die ED-„Unterlagen“ für die Auswertung eingereicht worden waren.

Somit liegt also nach der ersten ED-Behandlung einer Person und Auswertung ihres Fingerabdruck-/Handflächenabdrucksatzes im System AFIS

  • entweder die Erkenntnis vor, dass diese Person früher schon in AFIS erfasst wurde und somit schon eine D-Nummer existiert oder
  • dass der eingereichte Satz mit keinem anderen Satz übereinstimmt, also NEU ist, und dass dafür eine neue D-Nummer vergeben wurde.

Identitätsüberprüfung von Personen, für die unterschiedliche Namen existieren

Es kommt häufig vor, dass eine Person der Polizei unter einem bestimmten Namen bekannt wurde und bei der erstmaligen Speicherung auch unter diesem Namen erfasst wurde. Dieser Name bildet die so genannte ‚Führungspersonalie‘: Sie wird so genannt, weil diese Personalie den ganzen Personen-Datensatz anführt.

Nehmen wir an, dass ein solcher Personen-Datensatz existiert mit der Führungspersonalie Amed AMED (plus Geburtsdatum und Geburtsort). Bei der ersten oder einer weiteren ED-Behandlung sagt dieser AMED allerdings, dass sich sein Name anders schreibt, nämlich Amad AHMAD.
In jedem Fall ist es für den ED-Polizeisachbearbeiter Pflicht, dass er den Namen – Amad AHMAD in unserem Beispiel – als die ‚Personalie bei der ED-Behandlung‚ ebenfalls erfasst und zusammen mit dem aufgenommenen Finger-/Handflächenabdruckblatt erneut an das BKA übermittelt.

Wenn nun im Zuge der Auswertung im BKA festgestellt wird, dass der Amad AHMAD die gleichen Fingerabdrücke hat, wie der schon in AFIS und INPOL bekannte – und durch seine D-Nummer eindeutig identifizierte – Amed AMED: Dann erzeugt das BKA eine neue, so genannte A-Gruppe: Sie wird dem Personen-Datensatz des Amed AMED hinzugefügt mit dem Vermerk des BKA, dass die beiden Personalien (Amed AMED und Amad AHMAD) aufgrund daktyloskopischer Auswertung zu ein- und derselben Person gehören: Nämlich der Person, deren Fingerabdrücke durch die D-Nummer eindeutig identifiziert sind. Dieser Vermerk wird automatisch der Polizeibehörde übermittelt, bei der die ED-Behandlung stattgefunden hat und auch automatisch in das INPOL-Teilnehmersystem dieser Behörde eingepflegt.

Identitätsüberprüfung und Ergebnis, wenn Namen anderer, real existierender Personen vorkommen

Es kann auch vorkommen, dass bei der ED-Behandlung ein Name angegeben bzw. erfasst wird, den eine real existierende und dem AFIS-/INPOL-System bekannte Person führt. Sagen wir, es sei der Name Amedy G. In diesem Fall würde die Auswertung der Fingerabdrücke beim BKA ergeben, dass es einen Fingerabdrucksatz für den Amed AMED und einen anderen Fingerabdrucksatz für diesen Amedy G. gibt. Mit zwei unterschiedlichen D-Nummern! Damit steht fest, dass es sich hier um zwei unter­schiedliche, jedoch real existierende Personen handelt. Und damit ist eine Zusammenführung der Datensätze dieser beiden Personen kategorisch ausgeschlossen. Eine Polizeidatenbank DARF eine solche Zusammenführung nicht vornehmen. Diese Anforderung ist vergleichbar essenziell wie die an ein selbstfahrendes Auto, keine Fußgänger zu überfahren.

Der Fall Amad A

Die Vorgeschichte

Seit Dezember 2018 beschäftigt der Fall des jungen Syrers Amad A. einen Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag. Amad A. war am 06.07.2018 in Geldern von der Polizei wegen einer „Beleidigung auf sexueller Grundlage“ in Gewahrsam genommen worden. Wenige Stunden später wurde er auf der Grundlage von Haftbefehlen aus Hamburg, die ausgestellt waren auf den Namen eines gewissen Amedy G., inhaftiert und in eine Justizvollzugsanstalt eingeliefert.

Die Tatsachen,

  • dass unterschiedliche Personendatensätze über den Amad A. und den Amedy G., jeweils in INPOL und in ViVA vorlagen,
  • dass es ausführliche, inhaltlich sehr unterschiedliche Personenbeschreibung der beiden Männer gab,
  • dass Lichtbilder, Fingerabdrucksätze zur Genüge existierten und
  • demzufolge auch unterschiedliche D-Nummer

Alle diese Tatsachen wurden von den beteiligten Polizei- und Justizbeamten nicht beachtet und dies im Verlauf der späteren Ermittlungen kleingeredet: „Bedauerliche Fehler, aber nun mal geschehen! Fahrlässig durchaus, aber strafrechtlich nicht vorwerfbar!“ … Das ist nach mehr als zwei Jahren staatsanwaltschaftlicher und parlamentarischer Beschäftigung mit dem Fall die offizielle Lesart.

Auch später, und zwar zu Zeiten, als Amad A. noch lebte, gab es mehrere Hinweise darauf, dass der falsche Mann hinter Gittern saß: Doch niemand in Polizei oder Justiz veranlasste oder unternahm deshalb nähere Prüfungen. Bis es zu spät war: Am 17. September 2018 kam es unter immer noch nicht restlos geklärten Umständen zu einem Brand in der Gefängniszelle von Amad A. an deren Folgen er am 28.09.2018 verstarb.

Die offizielle Lesart der NRW-Behörden

Die nordrhein-westfälische Landesregierung und die mit den internen Ermittlungen beauftragten bzw. darin eingebundenen Behörden, insbesondere das Landeskriminalamt NRW und das Landesamt für Zentrale polizeiliche Dienste (LZPD), erklärten zu diesem tragischen Fall:

Die These Nr. 1 vom Kreuztreffer und der Datensatzzusammenführung durch eine Datenerfassungskraft

Es sei da zwei Tage vor der Inhaftierung bei einer Datenerfassungskraft im System ViVA ein ‚Kreuztreffer‚ angezeigt worden, also eine Übereinstimmung in zwei geringfügigen Merkmalen zwischen den Namensvarianten des Amad A. und den ziemlich vielen Namen, die zum Amedy G. gespeichert waren. Aufgrund dieses Kreuztreffers habe die Datenerfasserin – fehlerhaft! und unbefugt! – eine Zusammenführung der Datensätze des Amad A. und des Amedy G. vorgenommen. (Mehr dazu in [C])

Die These Nr. 2 von der Anzeige des zusammengeführten Datensatzes

Zwei Tage danach sei ein zusammengeführter Datensatz mit Daten von Amad A. und Amedy G. in ViVA den Polizeibeamten angezeigt worden, die – in einer ganz anderen Sache, die sicher nicht ausreichend war für eine Inhaftierung – mit dem Amad A. beschäftigt waren. Diese hätten daraufhin angenommen, dass Amad A. und Amedy G. ein- und dieselbe Person seien und hätten aufgrund dessen den Amad A. in Haft genommen. (Mehr dazu in [B])

Beweise für die offiziellen Erklärungen fehlen

Für diese Erklärungen von offizieller Seite gibt es so gut wie keine Beweise.

  • Die an der Inhaftierung beteiligten Polizeibeamten, zeitweise als Beschuldigte geführt in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung, machten von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch. Amad A. ist tot. Aussagen der Beteiligten existieren also nicht.
  • Eine Kopie des angeblich zusammengeführten Datensatzes existiert ebenfalls nicht,
  • ebenso wenig Zeugenaussagen, die die Datensatzzusammenführung durch die Datenerfasserin eindeutig bestätigen würden.

Das Veränderungsprotokoll wurde verändert / ist unvollständig

Es wird in ViVA automatisch ein Protokoll aller Veränderungen an allen Datensätzen mitgeschrieben: Jeweils mit Datum-/Zeitstempel, Angabe des betroffenen Datensatzes und der vorgenommenen Änderung. Vom Datensatz des Amad A. in ViVA liegt ein Protokollauszug vor. Die durch die Zusammenführung neu hinzugekommenen Daten müssten darin ja zu finden sein.

Doch leider ist der Protokollauszug ausgerechnet in den dafür relevanten Tagen unvollständig: Es fehlen Einträge ab Mittwoch Mittag, dem 04.07.2018 um 12:08 Uhr und endend am darauffolgenden Montag, dem 09.07.2018 um 08:50 Uhr. Also Einträge aus genau der Periode, in der diese Datensatzzusammenführung stattgefunden haben soll und zwei Tage später die Inhaftierung.

Auswerter für die Protokolldatenbanken ist ein Sachgebiet im LZPD

Verantwortlich für diese – vorsichtig gesagt – lückenhaften Auszüge aus der ViVA-Protokolldatenbank ist ein Sachgebiet im Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste Nordrhein-Westfalen (LZPD).

Ein Interessenkonflikt?! – Das LZPD ist auch Mit-Entwickler der Softwarefamilie ViVA

Das LZPD ist, wie auch das Landeskriminalamt NRW eine Landesoberbehörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums NRW.
Es betreibt die polizeilichen Datenbanken und entwickelt, unter anderem, gemeinsam mit dem Hersteller Deutsche Telekom Healthcare Systems (DTHS) auch die Softwarefamilie ViVA für die Polizei Nordrhein-Westfalen. ViVA ist das in NRW seit 2017 neu eingeführte INPOL-Land-System, kombiniert mit einer Vorgangsbearbeitungskomponente. In der ViVA-Software wurde die Datensatzzusammenführung durchgeführt, sie betraf die vorhandenen Personen-Datensätze des Amad A. und des Amedy G. in der ViVA-Datenbank.

Wieso hätte die ViVA-Software die Datensatzzusammenführung verhindern müssen?!

Es existiert in diesem Verfahren die Aussage, dass der ED-Beamte, der den Amad A. am 04.07.2018 erkennungsdienstlich behandelt hat, von einer Identität des Amad A. mit dem Amedy G. ausging. Wie er dazu kam, wurde, soweit hier bekannt, nicht untersucht. Es ist auch nicht bekannt, wie der ED-Sachbearbeiter überhaupt Kenntnis erlangt haben soll von der Existenz und dem Namen Amedy G.
Ausweislich der Protokollauszüge der Abfragen in VIVA haben andere Polizeibeamte – Kollegen von ihm aus der gleichen Dienststelle – am Vormittag des 04.07.018 nach dem Amedy G. recherchiert und dessen Datensatz eingesehen. Wenige Minuten später ordnete einer von ihnen die ED-Behandlung an. Wie jedoch die Personalie des Amedy G. dem ED-Sachbearbeiter bekannt/bewusst wurde, das ist ein weiteres, der bisher ungelösten Rätsel in diesem Fall.

Tatsache ist, dass ein Polizeibeamter, der in einem INPOL-Teilnehmersystem wie ViVA eine ED-Behandlung vornimmt, Namensangaben zu der Person machen MUSS, die er da erkennungsdienstlich behandelt. Nichts spricht gegen die Annahme, dass dieser Sachbearbeiter, wenn er schon angeblich angenommen hat, dass die beiden Personen identisch sind, dann auch bei der ED-Behandlung eingetragen hat, dass die von ihm behandelte Person am 04.07.2018 Amedy G. heißt. Das wäre zwar eine „Fake News“, denn vor ihm stand definitiv der Amed AMED = Amad A. Diese Fake News KÖNNTE aber den weiteren Verlauf der Dinge erklären.

Alternative A: Möglicher automatischer Abgleich

Die Angabe des Namens Amedy G. im Mussfeld ‚Personalie bei ED-Behandlung‘ KÖNNTE im ViVA-System einen Abgleichs-Automatismus ausgelöst haben. Der feststellen soll, ob es die neu hinzugefügte Personal (nach unserer Annahme: Amedy G.) im Personendatenbestand von ViVA bereits gibt. Ein solcher Abgleich hätte am 04.07.2018 zu dem Ergebnis kommen müssen, dass es sowohl einen Datensatz in ViVA/INPOL über den Amad A., als auch über den Amedy G. gab. Allerdings mit unterschiedlichen D-Nummern!

Doch unterschiedliche D-Nummern besagen im INPOL-Kosmos – und ja auch nach gesundem Menschenverstand! – dass es hier um unterschiedliche Personen geht. Also darf eine automatische Zusammenführung nicht vorgenommen werden, jedenfalls nicht von einer Software, die fachlich korrekt und nach den Regeln für die Datensatzzusammenführung von INPOL arbeitet. Denn diese Regeln sind für alle INPOL-Teilnehmer verbindlich.

Wenn die eingesetzte Software diese Regeln allerdings nicht beachtet: Dann könnte eine solche, mögliche Eingabe eines falschen Namens durch den ED-Sachbearbeiter in den Feldern für die ‚Personalie bei ED-Eingabe‘ zu einer automatischen Datensatzzusammenführung geführt haben.

Alternative B: Angebliche Datensatzzusammenführung durch die Datenerfassungskraft

Nach der offiziellen Lesart war es eine Datenerfassungskraft, die die Datensatzzusammenführung zwischen den beiden Personen vorgenommen hat. Aufgrund eines ihr angeblich angezeigten Kreuztreffers, schrieb das LZPD in seinem Analysebericht vom April 2019, sei „davon auszugehen“, dass diese Angestellte die Datensätze zusammengefasst habe. Das sei unbefugt gewesen, fehlerhaft.

ViVA hat diese Datensatzzusammenführung nicht verhindert!

Die Kardinalfrage ist nicht, ob eine Angestellte einen Fehler gemacht hat für eine Operation, die nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Die Kardinalfrage ist vielmehr, warum in Nordrhein-Westfalen mit ViVA eine Polizeisoftware und -datenbank im Einsatz ist, die solche gravierenden Anwenderfehler NICHT von sich aus abfängt:

Eine Software, die NICHT feststellt, dass hier zwei Personen-Datensätze zusammengeführt werden sollen, deren Personen unterschiedliche D-Nummern haben, also ganz sicher NICHT IDENTISCH sind. Und die daraufhin NICHT einen Alarm an den Anwender ausgibt. So viel fachliches Know-How und „Intelligenz“ muss von einem System wie ViVA verlangt werden.

Die Folgen der nicht verhinderten Datensatzzusammenführung

Beide überhaupt denkbaren Varianten für die Datensatzzusammenführung enden damit, dass eine fachlich qualifizierte und konform nach den Regeln von INPOL arbeitende Software sowohl unsere dargestellte Alternative A, wie auch die Alternative B hätte verhindern müssen:

Dennoch kam es – darauf lassen mehrere Indizien schließen – zu einer Datensatzzusammenführung. Was logisch nur bedeuten kann, dass ViVA eben doch nicht so fachlich qualifiziert und konform mit den Regeln von INPOL arbeitete, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre.

Klammheimliche Beseitigung der Folgen

Die Folgen davon fielen dann ja auch auf: Das war Mitte August im LZPD. Übrigens – Zufall oder nicht?! – genau in dem Sachgebiet, das zuständig ist für die Auswertung von Protokolldatenbanken. Und das vermutlich einige Fragen zu beantworten hat dieser Tage, warum denn in Protokollauszügen, die von diesem Sachgebiet vorgelegt wurden, ausgerechnet Einträge über die Tage fehlen, in denen die angebliche Datensatzzusammenführung passiert sein soll. (Mehr dazu in [E])

Maßgeblich aufgrund dieses – für sie erst im Spätherbst des letzten Jahres erkennbaren neuen Sachverhalts – haben die Anwälte der Eltern von Amad A. im Dezember 2020 eine neue Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft eingereicht.

Löschoperationen am Datensatz von Amad A.

Doch damit noch nicht genug: Nachdem also in diesem LZPD-Sachgebiet aufgefallen war, dass am 04.07.2018 eine A-Datengruppe mit den Personen des Amedy G. in ViVA entstanden war, kam es anscheinend zu weiteren, internen Nachforschungen: Dabei muss festgestellt worden ein, dass diese A-Datengruppe etwas zu tun hatte mit weiteren, jetzt festgestellten Zuwächsen von Datengruppen im Personen-Datensatz von Amad A.

Danach geschah allerdings nicht das, was Sie oder ich vermutlich erwarten würden: Vielmehr löschten Sachbearbeiter dieses Sachgebiets im LZPD vier Fahndungsnotierungen zwei Tage später noch 14 Personen-/Personalien Datengruppen aus dem ViVA-Datensatz von Amad A. Welche das waren, lässt sich nicht mehr sagen, denn auch in diesem Punkt fehlen die Einträge im Protokollauszug. Man sieht dort nur noch, DASS aber nicht mehr WELCHE Datengruppen wieder gelöscht wurden. Der Anzahl nach waren es aber genau so viele Fahndungsnotierungen und Personen-/Personaliengruppen, wie im Datensatz des Amedy G vorhanden gewesen waren.

Warum wurde der Fehler nur in der Datenbank und nicht auch in der Wirklichkeit korrigiert?

Mit diesen Löschoperationen war zwar der Fehler in der ViVA-Datenbank korrigiert. Der Fehler in der Wirklichkeit bestand allerdings weiter: Amad A. saß weiterhin in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Kleve auf der Grundlage von Haftbefehlen des Amedy G, die ihn nicht betrafen. 25 Tage nach der letzten Löschoperation brannte es in seiner Zelle. 12 Tage später war Amad A tot.

Umgang mit Fehlern in der Polizei NRW: Ist Vertuschung die einzige Strategie – und wie lange trägt sie noch?

NRW-Innenministerium, LKA und LZPD halten weiterhin fest an ihrer offiziellen Lesart. Sie übersehen dabei allerdings, dass es Aufgabe guter Führung und guter Softwareentwicklung ist, mögliche Denk- und Bedienfehler von Polizeimitarbeitern bzw. Software-Anwendern vorherzusehen und, wo immer möglich: Mit oberster Priorität solche, die zu gravierenden Folgen für Betroffene führen können.

Es wirft kein gutes Licht auf die politischen Entscheider, die die eklatanten Versäumnisse im Fall Amad A. in einer zusammengeschusterten Erklärung mehrfach und öffentlich einer Angestellten in die Schuhe schoben, deren angeblicher „Fehler“ der Stein war, der alles ins Rollen brachte. Und dann noch nicht einmal Beweise vorlegen konnten für diese zusammengezimmerte Geschichte.

Neben der Feststellung, dass viele beteiligte Polizeibeamte ganz offensichtlich Herz und Hirn, Augen und Ohren abgeschaltet hatten bei der polizeilichen „Sachbearbeitung“ des Falles Amad A. trifft ein Vorwurf die Führungskräfte im Projekt ViVA:

  • Erstens wegen der Implementierungsschwächen ihres Produkts ViVA, bei der Kreuztreffer-Problematik und dem Umgang mit der Datensatzzusammenführung.
  • Zweitens auch dafür, wie ungeniert sie Mitarbeiter ihres Hauses die Alleinstellung als Besitzer und „Auswerter der ViVA-Protokolldatenbank“ ausnutzen ließen, um Beweise nicht vorzulegen für die Fehler der eigenen Produkte und des eigenen Handelns.
  • Und drittens, und am schlimmsten, wie ich finde, dass dabei zwar die Datenlage wieder bereinigt wurde, die Faktenlage – Amad A. im Gefängnis – jedoch niemanden zum Handeln veranlasste. Dies letztere, ist ein Sachverhalt, der hoffentlich die dazu berufenen und befugten Instanzen in diesem Rechtsstaat in Bewegung setzt.

Nicht minder verantwortlich sind politische Entscheider, die loyal zu solchen Projekt-Managern stehen. Weil offensichtlich im Geschäftsbereich des NRW-Innenministeriums aktuell alles vermieden werden muss, was nach der Serie von Pannen und Skandalen der letzten drei Jahre weitere Fehler und andere Baustellen [D] aufdeckt.

Daher darf bzw. soll dann auch nicht bekannt werden, dass gravierende Mängel einer mit vielen Millionen beschafften bzw. gemeinsam mit dem Hersteller weiter entwickelten Software zu potenziell letalen Folgen für Betroffene werden können.

Betroffene übrigens, die bei dieser Qualität von Fehlern nicht beschränkt sein müssen auf „Ausländer“!

Beiträge zu verwandten Themen

[A]   Wie Manipulationen in INPOL den Syrer A.A. hinter Gitter brachten …, 04.04.2019
https://police-it.net/wie-manipulationen-in-inpol-den-syrer-a-a-hinter-gitter-brachten
MONITOR berichtete am 04.04.2019 über einen Vorgang in der Polizei Nordrhein-Westfalen und Hamburg, den man bisher so nicht für möglich gehalten hätte …

[B]   Wenn der Minister berichtet …, 11.04.2019
https://police-it.net/wenn-der-minister-berichtet

Innenminister Reul stellte sich am 10.04.2019 im Düsseldorfer Landtag einer Fragestunde zum Fall der Verfälschung von Namensangaben in INPOL, die den Syrer A.A. dauerhaft hinter Gitter brachte. Dabei waren ihm zwei Dinge wichtig: Eine Datenmanipulation habe durchaus stattgefunden, aber eben nicht in NRW. Auch Fehler bei der Identitätsüberprüfung habe es gegeben. Aber gegen die beiden daran beteiligten Polizeibeamten habe er Disziplinarverfahren eingeleitet und ermittle die Staatsanwaltschaft. Das allein genügt allerdings nicht, um Polizei und Politik in NRW von ihrer Verantwortung zu befreien.

[C]   Probleme mit Kreuztreffern im NRW-Polizeisystem ViVA, 17.06.2020
https://police-it.net/probleme-mit-kreuztreffern-im-nrw-polizeisystem-viva
„Riesenprobleme“ habe es gegeben mit Kreuztreffern im NRW-Polizeisystem ViVa. Das berichtete ein Zeuge im parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Heureka! Die Software ist schuld. Ist diese Erklärung wirklich haltbar?! Ich halte sie für widerlegbar aus mehreren, triftigen Gründen . Auch wenn sie – vor der Sommerpause – den erklärten „politischen Interessen“ nützt, die gerade die CDU im Ausschuss so massiv betont.

[D]   Nur die Spitze des Eisbergs?, 17.09.2020
https://police-it.net/polizei_nordrhein-westfalen-auslaenderfeindlichkeit-amedamed
In der Polizei Nordrhein-Westfalen ist eine rechtsextreme Chatgruppe aufgeflogen. 29 Polizeibeamte sind mit straf- bzw disziplinarrechtlichen Maßnahmen konfrontiert. Innenminister Reul kündigte mit markigen Worten Gegenmaßnahmen an. Im „PUA-Kleve“-Untersuchungsausschuss zur unrechtmäßigen Inhaftierung des Syrers Amed Amed, könnte die CDU-Mehrheit demonstrieren, dass diese Ankündigung der neue politische Wille in NRW sind – und endlich für Aufklärung sorgen.

[E]   Fall Amad A.: Manipulationen an Protokoll und Daten, 17.01.2021
https://police-it.net/fall-amad-a-manipulationen-an-protokoll-und-daten
Manipulationen an einem beweisrelevanten Protokoll und die klammheimliche Korrektur von Daten schüren weitere Zweifel an der offiziellen Erklärung im Fall Amad A.

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