Fall Amad A: Datenlöschung von Verstorbenen in INPOL-Zentral

Im Fall Amad A. fand in den letzten Monaten ein Tanz um die Frage statt, welche Daten eigentlich noch vorhanden sind bzw. gelöscht wurden. Die Aussagen von Innenminister Reul und der zuständigen Oberstaatsanwältin dazu wurden mehrfach geändert. Unter anderem wurde auch noch das Bundeskriminalamt einer angeblich „unvermeidlichen“ Löschoperation bezichtigt. POLICE-IT hat daher beim BKA mal nachgefragt, wie lange denn die Daten in INPOL-Zentral überleben, nachdem der dazu gehörende Mensch gestorben ist. | Lesedauer: Ca. 7 Minuten

Die Aussagen von Innenminister und Oberstaatsanwältin zur Löschung relevanter Datensätze

Nur mit etwas Aufwand gelingt es noch, bei den diversen, zum Teil widersprüchlichen Aussagen zu dieser Frage die Übersicht zu behalten. Hier daher die wichtigsten Sachverhalte und Aussagen in Kurzform:

  • Die Beweissicherung in einem Strafverfahren obliegt nicht etwa der Polizei, sondern der Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen führt.
    • Im Fall Amad A. stand von Anfang an die Behauptung im Raum, dass im Vorgangsbearbeitungssystem ViVA fehlerhaft zusammengeführte Datensätze die Polizeibeamten zur Annahme der Identität von Amad A. mit dem Malier Amedy G verleitet hätten.
    • Also waren die Datensätze beweiserheblich.
    • Also war es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, solche Daten sicherzustellen und eine vollständige Kopie außerhalb der Polizeidatenbanken zu speichern.
  • Nach Einsetzung des plarlamentarischen Untersuchungsausschusses im NRW-Landtag sicherte Innenminister Reul dem Ausschuss-Vorsitzenden schriftlich zu, dass die Daten zum Fall Amad A. nicht gelöscht würden. Die entsprechende Anweisung an die Behörden in seinem Geschäftsbereich wurde danach als ‚Löschmoratorium‘ bezeichnet.
  • Die zuständige Oberstaatsanwältin sagte am 11.05.2021 im Untersuchungsausschuss aus, dass „sämtliche [sic!] Datensätze über den verstorbenen Amad A. in den Polizeidatenbanken [sic!] gelöscht worden sind“. [Das beträfe also sowohl die Daten im Landes-System ViVA, als auch die im Bund-Länder-Verbundsystem INPOL-Zentral / d. Verf.] [wdr/westpol 12.05.2021]
  • Im Mai 2021 erklärte Innenminister Reul, „die Löschung des Datensatzes von Amad A. in der bundesweiten Polizei-Fahndungsdatenbank INPOL [im Oktober 2020] sei unvermeidbar gewesen“ [rp online 24.08.2021]
  • Im August 2021 teilte er dem Untersuchungsausschuss zunächst schriftlich mit, „es sei technisch möglich gewesen, die Datensätze zu Amad A. beim Bundeskriminalamt [also in INPOL-Zentral] zu erhalten. Doch das zuständige Landeskriminalamt habe das BKA nicht darum gebeten.“ [wdr/westpol 24.08.2021]
  • Bei seiner (nicht-öffentlichen) Anhörung vor dem Ausschuss am 24.08.2021 erklärte Minister Reul dann, dass seine frühere, inzwischen korrigierte Aussage seinem damaligen Kenntnisstand entsprochen hätte. [rp online 24.08.2021]

Was noch vorhandene oder doch gelöschte Daten – je nach Standpunkt des Betrachters – so wertvoll macht

Dieser Tanz um die Datensätze und um die Frage, was davon noch „da“ ist und was nicht, ist folgendermaßen zu erklären:

Die fehlenden Protokolldaten zwischen dem 04.07. und dem 09.07.2018

Warum sind diese Tage so relevant?

Am Mittwoch, dem 04.07.2018 wurde Amad A. nach einer Schwarzfahrt polizeilich „behandelt“, am Freitag, dem 06.07.2018 kam es zu den bekannten Ereignissen am Baggersee in Geldern, in deren Folge er auf der Grundlage der Haftbefehle gegen den Malier Amedy G. inhaftiert wurde; am Montag, dem 09.07.2018 wurde die Inhaftierung aus dem IT-System der Justiz (BasisWeb) in einem Sachgebiet des LKA NRW übertragen in das Datensystem ViVA und damit auch in INPOL.

Welche Aktivitäten sind nicht protokolliert – und daher auch nicht bewiesen?

In Protokolldaten, die das Landeskriminalamt dem Untersuchungsausschuss vorgelegt hat und die ich auswerten konnte, fehlen Protokolleinträge – ausgerechnet aus diesen Tagen zwischen dem 04.07. und 09.07.2018. Nicht einmal die vom LKA behauptete Zusammenführung am 04.07.2018 des ViVA-Datensatzes von Amad A. mit dem des Maliers Amedy G. kann man aus diesem Protokoll nachvollziehen: Denn wenige Minuten vor der behaupteten Zusammenführung bricht die Protokollierung inhaltlich ab und setzt erst am Morgen des 09.07.2018 mit der „Verbuchung“ der Inhaftierung wieder auf.

Da das Protokoll zwischen dem 04.07. und 09.07.2018 jedoch keine Inhalte aufweist, ist nicht bewiesen, WER und WANN diese Zusammenführung vorgenommen hat bzw. was überhaupt in diesen fünf Tagen mit dem ViVA-Datensatz von Amad A. geschehen ist.
Das ist umso merkwürdiger, als das offizielle Narrativ ja behauptet, dass eine unzureichend kompetente bzw. befugte Angestellte in der Kriminalaktenführung in Siegen-Wittgenstein für die Datensatzzusammenführung verantwortlich sei. Wenn das zutreffen würde UND im Protokoll sichtbar gewesen wäre, hätte man doch das Protokoll als Beweis heranziehen und vorlegen können. Anstatt das Gegenteil zu tun, nämlich ein Protokoll vorzulegen, dem alle aussagekräftigen Inhalte fehlen.

LZPD-Mitarbeiter löschen Daten, deren ANLAGE nicht protokolliert ist

Im LZPD werden Unstimmigkeiten am Datensatz von Amad A. festgestellt

Weitere sechs Wochen später, Mitte August 2018, wurden im zuständigen Arbeitsbereich des LZPD für die INPOL-/ViVA-Verbundverfahrenskontrolle Unstimmigkeiten festgestellt. Dort wird regelmäßig ein Abgleich durchgeführt zwischen INPOL-Land- = ViVA-Datenbestand und dem für NRW relevanten Datenbestand in INPOL-Zentral. Dabei soll festgestellt worden sein, dass für Amad A. in ViVA mehr (Alias-) Personaliendaten gespeichert waren als in INPOL-Zentral.

Korrekturmaßnahmen durch Mitarbeiter des LZPD

Was danach geschah, ist befremdlich. Einige Tage später wurden zwei Mal – ausweislich des oben schon genannten Protokolls – durch LZPD-Mitarbeiter Daten aus dem ViVA-Datensatz von Amad A. herausgelöscht. Man kann im Protokoll nur noch erkennen, dass es sich um Personalien-Daten gehandelt hat, aber nicht, um welche Daten konkret, also z.B. Namen, es sich gehandelt hat.

Damit war die DATENLAGE korrigiert. Die Datenbestände in ViVA und INPOL stimmten für den Amad A. wieder überein. [Irgendwelche Daten, z.B. Alias-Personalien des Maliers, waren also im jeweiligen Datensatz von Amad A. nicht mehr enthalten.] Auf die Idee auch die FAKTENLAGE zu korrigieren und Amad A. unverzüglich aus der Haft zu entlassen, kam allerdings niemand …

Was folgt daraus?

Das spricht also logisch dafür, dass es im Zeitraum der fehlenden Protokolleinträge – 04.07.2018 bis 09.07.2018 – doch eine Datensatzzusammenführung in ViVA gegeben haben kann. Ob sie bewusst herbeigeführt wurde oder sich aus einem Programmfehler ergab, lässt sich aus diesem Sachverhalt allein nicht ableiten. Nachdem das Protokoll der Bearbeitungen am Datensatz von Amad A. jedoch vollständig zu sein scheint – bis auf die erwähnten Tage Anfang Juli 2018 – müssen die später gelöschten Daten in dieser Zeit IN den Datensatz hineingekommen sein. Diese Daten, die nicht in den ViVA-Datensatz von Amad A. gehörten, weil sie ja auch nicht im INPOL-Datensatz von Amad A. enthalten waren, wurden dann im August 2018 von Mitarbeitern des LZPD wieder aus dem Datensatz herausgelöscht.

Gerade aufgrund dieser Fakten machen die mehrfach „nachgebesserten“ Erklärungen dazu, ob ermittlungsrelevante Daten nun „da“ oder „weg“ sind, das Narrativ des LKA und Innenministeriums bzw. der Oberstaatsanwältin zum Fall Amad A. nicht unbedingt glaubhafter.

Der Untersuchungsausschuss hat bekanntlich inzwischen einen Gutachten-Auftrag zu diesem Komplex erteilen lassen.

Was das Bundeskriminalamt zur Löschung der Daten von Verstorbenen in INPOL-Zentral sagt

Da das Bundeskriminalamt mit den Erklärungen des Innenministers auch in den Kreis der Beteiligten hineingezogen worden war, habe ich dort eine Anfrage gestellt mit der Bitte um Auskunft: Ob es denn zutrifft, dass vom BKA automatisch und „unvermeidlich“ zwei Jahre nach dem Tod eines Betroffenen dessen Daten gelöscht werden.

Hier ist die vollständige und wörtliche Antwort einer Pressesprecherin des BKA zu dieser Frage: Sie stammt vom 01.09.2021 [antwort bka pa2021-08-03]:

die Löschung der Datensätze von Verstorbenen erfolgt nicht durch den [Daten-]Besitzer, sondern durch einen INPOL-Z[entral]-Hintergrundprozess (HGP). Grundlage ist das Sterbedatum, das durch die INPOL-Teilnehmer [hier also LZPD bzw. LKA-NRW] angeliefert und in INPOL-Z gespeichert wurde. Nach einer Frist von zwei Jahren ab Sterbedatum steht immer der gesamte Datensatz zur Löschung durch den [erwähnten Hintergrundprozess] HGP an, außer wenn er [= der Datensatz] eine aktive Fahndung aufweist oder ein weiteres, späteres Fristlöschdatum in der P-Gruppe [= Datengruppe mit den Grundpersonalien, also Namen, Geburtsdatum etc.] die Löschung verhindert.

Vier Monate vor Ablauf der zwei Jahre wird der Datensatz im Rahmen der Aktenaussonderung an alle Mitbesitzer (also nicht nur den P-Gruppenbesitzer) [also definitiv auch an NRW als Datenbesitzer] zur Prüfung gegeben. [In NRW teilten sich zu dieser Zeit das LKA, SG 33.2 und das LZPD die Aufgabe der Datenpflege in INPOL. Das gehört zum AUfgabengebiet der ViVA-INPOL-Verbundverfahrenskontrolle]. Gibt es in diesem Verfahren keine Einwände gegen eine Löschung wird der Datensatz durch den Hintergrundprozess gelöscht. Die beteiligten INPOL-Teilnehmer werden hierüber per [automatisch generierter] Nachricht(en) [von INPOL-Z an INPOL-NRW] informiert, damit sie diese Änderung auch im Landessystem nachvollziehen. [Solche Nachrichten des BKA gehen in NRW an das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD)]. Gelöscht wird immer der gesamte Datensatz, der aber keine aktive Fahndung aufweisen darf. „

[Die Anmerkungen in eckigen Klammern habe ich eingefügt / d. Verf.]

… und was daraus für den Fall Amad A. folgt

  • Sowohl das LZPD als auch das LKA NRW führen die ViVA-INPOL-Verbundverfahrenskontrolle: Einer von beiden muss nach dem Tod von Amad A. im September 2018 dessen Sterbedatum in INPOL eingepflegt haben.
  • Vier Monate vor dem Ablauf der Frist – Sterbedatum plus 24 Monate, also Oktober 2020, wurde das LZPD vom BKA automatisiert über die vorgesehene Löschung des Amad A.-Datensatzes in INPOL-Z(entral) benachrichtigt.
  • Zu diesem Zeitpunkt muss das LZPD über das „Löschmoratorium“ des Innenministers vom Januar 2019 informiert gewesen sein. Schließlich war es in die internen Ermittlungen des LKA sehr dicht eingebunden und hat dazu z.B. im Frühjahr 2019 schon eine umfangreiche Analyse abgegeben, auf die sich die Argumentationskette des LKA gegenüber dem Untersuchungsausschuss weitgehend stützt.

Zur Relevanz des INPOL-Datensatzes für die eventuelle Aufklärung des Falles Amad A.

Doch warum haben das LZPD bzw. LKA NRW nichts unternommen, um die anstehende Löschung des INPOL-Z-Datensatzes von Amad A. zu verhindern?

Vielleicht erklärt sich das ja ganz harmlos: Auf diese Daten kam es für die Aufklärung des Falles wirklich nicht mehr sonderlich an: Denn – erstens – liegt dem Ausschuss eine ausgedruckte Fassung des INPOL-Datensatzes von Amad A. zumindest aus dem ereignis-relevanten Zeitraum 04.07.2018 bis 16.08.2018 vor. Und – zweitens – ist ein Datensatz aus dem Oktober 2020, also zwei Jahre nach den fraglichen Ereignissen, kriminalistisch nicht mehr sonderlich aussagekräftig für Datenveränderungen im Juli 2018 und auch für ein Strafverfahren von äußerst begrenztem Be- oder Entlastungswert: Denn in den 26 Monaten dazwischen kann sich an diesem Datensatz vieles verändert haben.

Diese Kardinalfragen sind noch immer nicht beantwortet

  • WER oder WAS hat dafür gesorgt, dass in den Datensatz des Amad A. zwischen dem 04.07. und 09.07.2018 Alias-Personalien aufgenommen wurden, die es so aussehen ließen, als sei der Syrer Amad A identisch mit dem völlig anders aussehenden Malier Amedy G.?
    • Die offizielle These von der Angestellten in Siegen wird immer unwahrscheinlicher und ist vor allem durch nichts bewiesen.
    • Oder war es ein „Kreuztreffer“ in der Software ViVA, der u.U. eine Zusammenführung der Datensätze der beiden Personen ausgelöst hat?! Das wäre ein fataler technischer Fehler: Und nachfolgend ein massives Organisationsversagen: Denn diese Fehlfunktion und ihre fatalen Auswirkungen auf Betroffene hatte ein Anwender schon im Februar 2018 dem LKA angezeigt. Von dort war der Fehler weitergemeldet worden an das [für die Softwarenentwicklung und Fehlerkorrektur von ViVA] zuständige LZPD. Doch mehr als ein Jahr später hat Innenminister Reul im Landtag erklärt, dass dieses Verhalten noch immer in ViVA festzustellen ist.
  • Warum wurde dem Untersuchungsausschuss ein unvollständiges Bearbeitungsprotokoll des Datensatzes von Amad A. vorgelegt?
    Was soll mit den „fehlenden Protokollteilen“ vertuscht werden?
    Wer verantwortet politisch diesen monatelang gar nicht erkannten Täuschungsversuch gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Landtages?

Quellen und Belege

[wdr/westpol 12.05.2021]   Daten aus dem Fall Amad A. „versehentlich“ gelöscht, 12.05.2021, WDR Westpol

[rp online 24.08.2021]   Reul räumt falsche Auskunft im Untersuchungsausschuss ein

[wdr/westpol 24.08.2021]   BKA hätte Datenlöschung im Fall Amad A. verhindern können, WDR Westpol

[antwort bka pa2021-08-03]Anwort der Pressestelle des Bundeskriminalamts vom 01.09.2021 auf Pressenanfrage Police-IT vom 24.08.2021 zur „Löschung von Daten über Verstorbene in INPOL-Zentral“

Beiträge zum ‚Fall Amad A.‘ auf diesem Blog

Alle Beiträge zum Fall Amad A. auf diesem Blog sind in dieser Übersicht über den Fall Amad A. in chronologisch absteigender Reihenfolge zu finden.

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