Die Diskussion um „BKA und gelöschte Daten“ im Fall Amad A. ist ein Ablenkungsmanöver von Innenminister Reul. Ob Daten im Jahr 2020, also zwei Jahre nach dem Tod von Amad A. aus dem INPOL-Zentralsystem gelöscht wurden, ist irrelevant für die Frage, warum am 4.07.2018 – angeblich – sein Datensatz im Landessystem ViVA mit dem des Maliers Amedy G. zusammengeführt worden sein soll. Und warum er daraufhin am 6.07.2018 auf der Grundlage eines Haftbefehls für den Malier Amedy G. in Haft genommen wurde. Zwei relevante, nach wie vor ungeklärte Fragen richten den Scheinwerfer vielmehr auf das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) – im Geschäftsbereich von Innenminister Reul.| Lesedauer: Ca. 6 Minuten
1. Warum klafft im Bearbeitungsprotokoll des Personen-Datensatzes von Amad A. im Landesdatensystem ViVA eine Lücke von FÜNF Tagen??
Und zwar aus der Zeit zwischen dem 04.07.2018 und dem 09.07.2018 – das ist die Zeit der Festnahme und seiner Inhaftierung.
In dieser Zeit, nämlich schon am 4.7.2018, soll est die „fehlerhafte“ Zusammenführung der Daten von Amad A. mit den Daten des Maliers Amedy G. geschehen sein; jedenfalls nach der Darstellung aus dem Landeskriminalamt bzw. Innenministerium NRW.
Aufgrund der Lücke im Bearbeitungsprotokoll kann man aus diesem Protokoll nicht mehr feststellen, wann und durch wen diese „Zusammenführung“ tatsächlich geschehen ist. Sie KÖNNTE – theoretisch – durch die Sachbearbeiterin in Siegen am Mittwoch, dem 4.7.2018 erfolgt sein. Doch wenn LKA und Innenministerium mit dieser Darstellung Recht haben: Warum bricht das Bearbeitungsprotokoll dann wenige Minuten vor der angeblichen Zusammenführung durch die Sachbearbeiterin in Siegen unvermittelt ab? Und setzt erst fünf Tage später, am darauffolgenden Montag, dem 09.07.2018 kurz vor 9 Uhr morgens wieder auf?
2. Warum sind die Datensätze von Amad A. und von Amedy G aus ViVA aus dem relevanten Zeitraum (angeblich) nicht mehr vorhanden?
Nicht nur das Bearbeitungsprotokoll zum Personen-Datensatz von Amad A., sondern auch der Datensatz selbst in ViVA und der von Amedy G. in ViVA aus diesen fünf Tagen sind angeblich nicht mehr vorhanden. Warum wurden diese Daten nicht spätestens nach dem Tod von Amad A. im September 2018 von der Polizei bzw. von der ermittlungsführenden Staatsanwaltschaft als ermittlungsrelevant gesichert?? Immerhin wurde da ein Todesermittlungsverfahren geführt!
Das BKA hat mit diesen Kardinalfragen nichts zu tun
Beide Fragen haben mit angeblichen Löschungen von Daten im INPOL-Zentralsystem beim Bundeskriminalamt, zwei Jahre später, nicht das Geringste zu tun!
- Zum einen, weil seit den relevanten Ereignissen im Juli 2018 mehr als zwei Jahre vergangen sind. Selbst wenn INPOL-Daten tatsächlich gelöscht worden sein sollten – eine angefragte Bestätigung des BKA dazu liegt POLICE-IT bisher noch nicht vor – ist das für die zwei Kardinalfragen oben nicht relevant: Denn Relevant sind Daten im Landessystem ViVA und nicht im INPOL-Zentralsystem beim BKA. Übrigens: Von den fallrelevanten INPOL-Daten des Amad A. und des Amedy G. liegen dem Untersuchungsausschuss von Anfang seiner Tätigkeit an Ausdrucke vor! [Aus denen sich ebenfalls offene Fragen ergeben, um nicht von „Verdacht von Manipulationen“ zu sprechen.]
- Das BKA, das hier zum Schuldigen gemacht werden soll, hat nicht das Geringste mit dem Landesdatensystems ViVA zu tun hat und hat auch keine Möglichkeit, Einträge aus einem Bearbeitungsprotokoll in ViVA oder gar Datensätze aus ViVA zu löschen.
Im Zentrum der Aufklärung sollte das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) stehen
Das lückenhafte Protokoll und die Daten in ViVA liegen ausschließlich im Verantwortungsbereich des Landesamts für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD), einer Behörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums NRW. Das seit Mai 2021 von Innenminister Reul aufgebrachte Thema „BKA und angebliche Datenlöschung im Jahr 2020“ lenkt von dieser Verantwortlichkeit ab. Wer sich auf dieses Thema einlässt, geht dem Innenminister und seiner Ablenkungsstrategie auf den Leim.
Disclaimer
Die Autorin dieses Artikels hat in den vergangenen Monaten Datenanalysen und Auswertungen der Unterlagen, Daten und Ausdrucke im Fall Amad A. im Auftrag der Anwälte seiner Eltern erstellt. Hier finden Sie mehr zu ihrem beruflichen Hintergrund.
Quellen und Belege
[1] Reul räumt falsche Auskunft im Untersuchungsausschuss ein, 24.08.2021, dpa-Meldung u.a. in RTL.dehttps://www.rtl.de/cms/reul-raeumt-falsche-auskunft-im-untersuchungsausschuss-ein-4819144.html [2] Originaldaten im Fall Amad A. gelöscht: Strafanzeige, 11.05.2021, Agenturnachricht [3] Daten aus dem Fall Amad A. „versehentlich“ gelöscht, WDR, Westpol, 12.05.2021 [4] Die Polizei löscht Daten, 13.05.2021, TAZ
Weitere Beiträge zum Fall Amad A.
[A] Wie Manipulationen in INPOL den Syrer A.A. hinter Gitter brachten …, 04.04.2019https://police-it.net/wie-manipulationen-in-inpol-den-syrer-a-a-hinter-gitter-brachten
MONITOR berichtete am 04.04.2019 über einen Vorgang in der Polizei Nordrhein-Westfalen und Hamburg, den man bisher so nicht für möglich gehalten hätte … [B] Wenn der Minister berichtet …, 11.04.2019
https://police-it.net/wenn-der-minister-berichtet
Innenminister Reul stellte sich am 10.04.2019 im Düsseldorfer Landtag einer Fragestunde zum Fall der Verfälschung von Namensangaben in INPOL, die den Syrer Amad A. dauerhaft hinter Gitter brachte. Dabei waren ihm zwei Dinge wichtig: Eine Datenmanipulation habe durchaus stattgefunden, aber eben nicht in NRW. Auch Fehler bei der Identitätsüberprüfung habe es gegeben. Aber gegen die beiden daran beteiligten Polizeibeamten habe er Disziplinarverfahren eingeleitet und ermittle die Staatsanwaltschaft. Das allein genügt allerdings nicht, um Polizei und Politik in NRW von ihrer Verantwortung zu befreien. [C] Probleme mit Kreuztreffern im NRW-Polizeisystem ViVA, 17.06.2020
https://police-it.net/probleme-mit-kreuztreffern-im-nrw-polizeisystem-viva
„Riesenprobleme“ habe es gegeben mit Kreuztreffern im NRW-Polizeisystem ViVa. Das berichtete ein Zeuge im parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Heureka! Die Software ist schuld. Ist diese Erklärung wirklich haltbar?! Ich halte sie für widerlegbar aus mehreren, triftigen Gründen . Auch wenn sie – vor der Sommerpause – den erklärten „politischen Interessen“ nützt, die gerade die CDU im Ausschuss so massiv betont. [D] Nur die Spitze des Eisbergs?, 17.09.2020
https://police-it.net/polizei_nordrhein-westfalen-auslaenderfeindlichkeit-amedamed
In der Polizei Nordrhein-Westfalen ist eine rechtsextreme Chatgruppe aufgeflogen. 29 Polizeibeamte sind mit straf- bzw. disziplinarrechtlichen Maßnahmen konfrontiert. Innenminister Reul kündigte mit markigen Worten Gegenmaßnahmen an. Im „PUA-Kleve“-Untersuchungsausschuss zur unrechtmäßigen Inhaftierung des Syrers Amad A., könnte die CDU-Mehrheit demonstrieren, dass diese Ankündigung der neue politische Wille in NRW sind – und endlich für Aufklärung sorgen. [E] Fall Amad A.: Manipulationen an Protokoll und Daten, 17.01.2021
https://police-it.net/fall-amad-a-manipulationen-an-protokoll-und-daten
Manipulationen an einem beweisrelevanten Protokoll und die klammheimliche Korrektur von Daten schüren weitere Zweifel an der offiziellen Erklärung im Fall Amad A. [F] Fall Amad A.: Polizeidatenbank ViVA machte aus zwei NICHT identischen Menschen einen, 02.02.2021
https://police-it.net/fall-amad-a-polizeidatenbank-viva-machte-aus-zwei-nicht-identischen-menschen-einen
Wenn erkennungsdienstlich von der Polizei behandelte Personen unterschiedliche Fingerabdrücke haben, darf es nicht zu einer Datensatzzusammenführung kommen. Weil dann vom Bundeskriminalamt nach einer daktyloskopischen Auswertung ihrer Finger-/Handflächenabdrucksätze bestätigt ist, dass diese Personen NICHT identisch sind. Amad A. und der datenmäßig mit ihm „zusammengeführte“ Amedy G. hatten definitiv unterschiedliche Abdrucksätze, d.h. unterschiedliche D-Nummern. Ein Vergleich dieser D-Nummern durch Software ist leicht möglich. Eine fachlich qualifizierte, mit den INPOL-Regeln konforme Software hätte den Unterschied erkennen müssen. [G] Was unternimmt IM Reul, um zu verhindern, dass ViVA auch in Zukunft nicht identische Menschen zusammenführt?, 05.02.2021
https://police-it.net/was-unternimmt-im-reul-dagen-dass-viva-erneut-nicht-identische-menschen-zusammenfuehrt
Wieder einmal liegen Einstellungsbescheide der Staatsanwaltschaft Kleve vor zu Ermittlungsverfahren gegen Polizei- und Justizbeamte im Fall des Syrers Amad A.: In seinem Fall wird häufig der Vergleich angestellt mit dem tragischen Tod des Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau. Abgesehen von der Gemeinsamkeit des Brandes in der Zelle sehe ich wenige, bewiesene Übereinstimmungen. Ganz im Gegenteil halte ich den Fall des Amad A., für weitaus gravierender, wenn man ihn als Prototypen für einen möglichen Modus Operandi, also eine Vorgehensweise durch Polizei- bzw. Justizbeamte gegenüber Menschen ansieht, die ihnen (zeitweise) anvertraut sind. Dieser Modus Operandi kann sich wiederholen! Denn es kam im Fall Amad A. zur Herstellung einer Datenlage im polizeilichen Informationssystem. Die es so aussehen ließ, als seien der Syrer Amad A. und der Malier Amedy G. ein- und dieselbe Person. Infolgedessen kam es zur Verhaftung und Einlieferung des Amad A. in die JVA. Zehn Wochen später war Amad A. nicht mehr am Leben. Dafür war ein krass regelwidriges Systemverhalten von ViVA mitverantwortlich. [H] Wenn Daten töten (1): Fall Amad A.: Die fatalen Folgen einer Schwarzfahrt, 28.02.2021
Teil 1 der Serie ‚Wenn Daten töten – Der Fall des Syrers Amad A.‘
https://police-it.net/wenn-daten-toeten-1-fall-amad-a-die-fatalen-folgen-einer-schwarzfahrt
Ohne die Schwarzfahrt am 04.07.2018 hätte sich das Leben von Amad A. anders entwickelt. Denn die polizeiliche Sachbearbeitung seiner erneuten „Beförderungserschleichung“ an diesem Tag legte den Grundstein für seine unrechtmäßige Festnahme zwei Tage später. Die führte drei Monate später zu seinem Tod. [I] Wenn Daten töten: Fall Amad A. (2): Festnahme mit Haftbefehl eines anderen, 02.03.2021
Teil 2 der Serie ‚Wenn Daten töten – Der Fall des Syrers Amad A.‘
https://police-it.net/wenn-daten-toeten-fall-amad-a-2-festnahme-mit-haftbefehl-eines-anderen
Am 06.07.2018 wurde der Syrer Amad A. von der Polizei in Geldern in Gewahrsam genommen. Der Vorfall, der dem zugrunde lag, hätte keinesfalls eine richterliche Freiheitsstrafe nach sich gezogen. Sechs Stunden später war Amad A. festgenommen und in die JVA Geldern eingeliefert. Auf der Grundlage eines Haftbefehls gegen einen völlig anderen Menschen namens Amedy G. Spätere Ermittlungen gegen Polizei- und Justizvollzugsbeamten wurden eingestellt: Eine Kenntnis der fehlenden Identität von Amad A. und Amedy G. habe ihnen nicht nachgewiesen werden können … [J] Wenn Daten töten: Fall Amad A. (3): LKA und LZPD geben Rätsel auf, 08.03.2021
Teil 3 der Serie ‚Wenn Daten töten – Der Fall des Syrers Amad A.‘
https://police-it.net/wenn-daten-toeten-fall-amad-a-3-lka-und-lzpd-geben-raetsel-auf
Am Montag Morgen, dem 09.07.2018 lag die Mitteilung über die Inhaftierung von Amad A. beim LKA vor und wurde dort in ViVA übernommen. Dass der eindeutig identifizierte Amad A. in Haft saß auf der Grundlage von Haftbefehlen für einen Amedy G. wurde auch dort nicht bemerkt. Wo Daten nicht „passten“, wurden sie passend gemacht. Und endlich wurde auch die ED-Behandlung vom 04.07.2018 in ViVA abgeschlossen. Bei all dem kam es zu einer Reihe von bis heute ungelösten Rätseln … [K] Fall Amad A.: Der geplante Gutachtenauftrag von CDU und FDP stellt die falschen Fragen, 12.05.2021
https://police-it.net/fall-amad-a-der-geplante-gutachtenauftrag-von-cdu-und-fdp-stellt-falsche-fragen
Der geplante Auftrag an den Gutachter, den CDU und FDP in der Sitzung des Untersuchungsausschusses im NRW-Landtag am 10.05.2021 angeregt haben, wird drei wesentliche ungeklärte Sachverhalte im Fall Amad A. nicht klären können. Solange es bei den derzeit veröffentlichten falschen Fragen bleibt … [L] Fall Amad A.: Offizielle Erklärungen immer unglaubwürdiger, 16.05.2021,
https://police-it.net/fall-amad-a-offizielle-erklaerungen-immer-unglaubwuerdiger
Die offiziellen Erklärungen der Behörden im Fall Amad A. werden immer unglaubwürdiger. Und sie beschädigen zunehmend die professionelle Reputation des Landesamts für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) und seiner Mitarbeiter.
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